Die geheimnisvollen Hormondrüsen
STELL dir ein gut funktionierendes Geschäftsunternehmen vor: Die acht Direktoren sind ständig miteinander durch Funk und Unterredungen in Kontakt. Jedes Mitglied des Direktoriums hat seinen eigenen Aufgabenbereich — das eine die Entwicklung des Betriebs; ein anderes den Verkauf; wieder ein anderes muß Schwierigkeiten ermitteln und beseitigen; der Aufgabenbereich des vierten ist die Wettbewerbsfähigkeit; der des fünften die Forschung; der des sechsten die Werbung usw. Aber nicht nur das, sondern jedes Direktionsmitglied verfügt innerhalb des Betriebes über ein kompliziertes System, das der Kontrolle und dem Ausgleich dient, durch das der eine der Direktoren zu vermehrter Tätigkeit angeregt wird und ein anderer dazu, die Produktion zu verlangsamen. Und alle arbeiten unter der unsichtbaren Leitung eines geheimnisvollen Chefs, den sie hören, aber nie sehen.
Das System der Hormondrüsen im menschlichen Körper funktioniert ähnlich. Diese acht Drüsen erzeugen in kleinsten Mengen erstaunlich wirksame Stoffe, Hormone genannt (von dem griechischen Wort hormōn, das „zur Tätigkeit anregen“ bedeutet). Der Saft dieser Drüsen gelangt nicht wie der Saft der Schweiß- oder Speicheldrüsen durch einen Gang an seinen Bestimmungsort, sondern diese Drüsen geben ihren Saft direkt in den Blutstrom ab. Daher auch die Bezeichnung endokrine Drüsen oder Drüsen mit innerer Sekretion.
Die Sekrete oder Hormone werden dann vom Blut durch den ganzen Körper getragen und bewirken erstaunliche Dinge. Die Follikelhormone, Östrogene genannt, bewirken, daß ein Mädchen zur richtigen Zeit geschlechtsreif wird. Das ebenfalls von den Geschlechtsdrüsen erzeugte Progesteron funkt den Befehl, daß die Gebärmutter sich ruhig zu verhalten habe, um als Wiege für das befruchtete Ei zu dienen. Das von den Inselzellen der Bauchspeicheldrüse gebildete Insulin reguliert den Zuckerstoffwechsel. Das Sekret der Hypophyse oder Hirnanhangdrüse reguliert das Wachstum des Skeletts. Überfunktion dieser Drüse führt zu Riesenwuchs; Unterfunktion zu Zwergwuchs. Das Adrenalin beeinflußt die Färbung der Haut, den Blutdruck usw.
Zu den erstaunlichen Eigenschaften der Drüsen gehört ihre Wirtschaftlichkeit. Die Hormondrüsen sind winzig — die vier Nebenschilddrüsen am Hals sind zum Beispiel nicht größer als ein Weizenkorn, und die Hirnanhangdrüse hat den Umfang einer großen Erbse. Aber nicht nur die Größe der Drüse, sondern auch die Menge und die Wirksamkeit der Absonderung ist ein Beispiel von Wirtschaftlichkeit. Die Nebennieren sondern während des ganzen Lebens eines Menschen nur etwa einen Teelöffel voll Hormon ab. Und die Schilddrüse sondert pro Tag so wenig Hormon ab, daß man es mit gewöhnlichen Instrumenten nicht wiegen kann.
Die vier unbedeutenderen Drüsen
Vier der acht Hormondrüsen spielen offenbar keine so wichtige Rolle wie die übrigen vier. Zu diesen vier unbedeutenderen Drüsen zählt die Epiphyse oder Zirbeldrüse. Diese Drüse befindet sich hinter der Hypophyse im Gehirn. Über ihre Aufgaben weiß man immer noch nicht genau Bescheid, doch beeinflußt sie offenbar die Geschlechtsentwicklung.
Die Nebenschilddrüsen, die mit der Schilddrüse am Hals eng verbunden sind, regeln den Kalzium- und Phosphorgehalt des Blutes. Sie bereiten selten Schwierigkeiten, doch wenn diese Drüsen nicht genügend Hormon erzeugen, sinkt der Kalziumgehalt des Blutes, und der Phosphorgehalt steigt. Das mag dann Nervosität zur Folge haben sowie Muskelkontraktionen und Krämpfe. Die Nebenschilddrüsen sind nur winzige Kügelchen, gewöhnlich zwei auf jeder Seite der Luftröhre. Sie sind von lebenswichtiger Bedeutung, obschon sie die kleinsten der Hormondrüsen sind. Werden sie entfernt, so tritt der Tod als Folge von Tetanie oder Muskelkontraktionen ein, es sei denn, es wird Kalzium verabreicht.
Die Thymusdrüse besteht aus zwei Lappen und liegt hinter dem Brustbein über den großen Gefäßen des Herzens. Sie besteht aus schwammigem Gewebe und steuert die Abwehr der Krankheitskeime. Nach der Pubertät behält sie etwa die gleiche Größe bei, verfettet aber und hört offenbar zu funktionieren auf.
Die Zeitschrift Newsweek schrieb: „Für ein Kind, das keine Thymusdrüse hat, sind die Aussichten trübe.“ Es kommt zwar selten vor, doch wenn ein Kind ohne eine solche Drüse zur Welt kommt, wird es im Laufe der ersten zwei Lebensjahre an einer Infektion sterben. Die Thymusdrüse spielt somit offenbar eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Antikörpern, die das Kind vor Krankheit schützen.
Die Bauchspeicheldrüse sondert das Insulin ab, das den Zuckerstoffwechsel steuert. Wenn diese Drüse nicht arbeitet, sammelt sich Zucker im Blut an, und die Nieren scheiden den Überschuß über den Urin aus, ein solcher Mensch leidet an Diabetes.
Die vier bedeutenderen Drüsen
Die Keimdrüsen sind wichtig, aber nicht lebenswichtig. Die Eierstöcke, deren Hauptaufgabe darin besteht, Eizellen zu produzieren (während des ganzen Lebens etwa 50 000), bilden auch zwei Hormone: Östradiol und Progesteron. Während des fortpflanzungsfähigen Alters werden nur wenige Milligramm Östradiol abgesondert, doch das genügt, um beim Mädchen die Ausbildung der weiblichen Geschlechtsmerkmale zu bewirken und daß während der Zeit der weiblichen Geschlechtsreife etwa einmal im Monat ein Ei reif wird und die Wanderung durch das Kanalsystem der weiblichen Fortpflanzungsorgane antritt.
Forscher haben entdeckt, daß die weiblichen Hormone bei beiden Geschlechtern der Verhärtung der Arterien entgegenwirken. Der Körper verwendet Geschlechtshormone zweifellos nicht nur für die Fortpflanzung, sondern auch noch für andere Zwecke.
Die männlichen Keimdrüsen, die Hoden, bilden außer den Spermien das Hormon Testosteron, das bei der Eiweißsynthese eine Rolle spielt, bei der Heilung von Knochenbrüchen und bei der Blutgerinnung.
Die Hypophyse oder Hirnanhangdrüse, die sich an der Basis des Gehirns befindet, ist eine Chemikerin von Format. Sie sondert mindestens acht chemisch-signalisierende Substanzen ab. Eine davon steuert das ganze Fortpflanzungsgeschehen im weiblichen Organismus — die Reifung des Eies im Graaf-Follikel der Eierstöcke, die Bildung von Östrogenen, den Menstruationszyklus, die Sekretion von Prolaktin, das die Milchproduktion für das Neugeborene anregt, usw.
Die übrigen Hormone der Hirnanhangdrüse regen die Schilddrüse und die Nebennieren an, regulieren das Wachstum, die Beförderung von Fettvorräten in die Leber, die Hautfarbe, die tägliche Urinmenge und den Salzhaushalt des Körpers. Welch eine vielfältige und genau arbeitende Chemikerin, welch eine Chemikerin von Format die Hirnanhangdrüse doch ist!
Die Schilddrüse ist das Gaspedal des Körpers! Sie beschleunigt oder bremst die Lebenstätigkeit. Bei Unterfunktion dieser Drüse wird die geistige und körperliche Reaktion verlangsamt. Die Haut mag trocken sein, die Haare mögen ausfallen, und der Patient mag kälteempfindlich sein. Bei Überfunktion dagegen tritt Nervosität auf, Gewichtsabnahme trotz guten Appetits, Hitzeempfindlichkeit und Herzklopfen. Die angeborene Schilddrüsenunterfunktion nennt man Kretinismus, sie hat zur Folge, daß das Kind in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung zurückbleibt.
Die Schilddrüse, beim Erwachsenen die größte Drüse mit innerer Sekretion, bildet ein jodhaltiges Hormon, das die Verbrennungsprozesse des Stoffwechsels beherrscht. Enthält die Kost zu wenig Jod, so daß die Schilddrüse nicht normal funktionieren kann, vergrößert sie sich, oder es entsteht ein Kropf. Um das zu verhüten, hat man vielerorts dem Kochsalz Jod zugesetzt.
Die Nebennieren sitzen am oberen Pol der Nieren, auf jeder Niere eine. Die Nebennieren bestehen aus zwei Teilen, dem Nebennierenmark (dem Kern) und der Nebennierenrinde (der Hülle). Das Nebennierenmark sondert das Adrenalin ab — dieser Wirkstoff ermöglicht es dem Körper, mit plötzlich auftretenden Streßsituationen fertig zu werden. Wenn die Nebennieren gesund sind, vermag der Körper solche Situationen zu ertragen. Wenn ein Mensch vor jemandem fliehen muß, der ihn angreift, schlägt sein Herz schneller, und der Sauerstoffverbrauch steigt, auch das Gehirn arbeitet mehr, und das Blut gerinnt schneller. Das Nebennierenmark wirkt so auf den Körper, daß er für plötzliche Beanspruchungen ausgerüstet ist.
Die Nebennierenrinde die lebenswichtig ist, bildet offenbar mehr als drei Dutzend Hormone, alles Steroide. Diese Hormone haben viele verschiedene Aufgaben, so regeln sie zum Beispiel den Salz- und Zuckerhaushalt im Körper und wirken antiallergisch und entzündungshemmend.
Diese erstaunlichen Hormondrüsen, einem chemischen Konzern vergleichbar, die die Vorgänge im menschlichen Körper so vorzüglich regeln, gehören zu den Wunderwerken eines genialen Schöpfers. Es ist glaubwürdiger, daß eine Uhr, obwohl sie ein kompliziertes Gerät ist, durch Zufall entstanden ist, als daß das System der Hormondrüsen mit seiner fein abgestuften Kontrolle aller Körpervorgänge ein Werk des Zufalls sei; das ist unmöglich, besonders, wenn man bedenkt, daß alle Drüsen von Anfang an einwandfrei funktionieren müssen, damit der Körper normal leben kann — oder überhaupt leben kann!
[Kasten auf Seite 19]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
DIE HORMONDRÜSEN
DRÜSE LAGE EINIGE DER AUFGABEN FOLGEN VON STÖRUNGEN
Epiphyse Gehirn steuert Keimdrüsen- anomale
(Zirbeldrüse) entwicklung Geschlechtsentwicklung
Hypophyse Gehirn steuert Knochenwachs- Überfunktion:
tum, Hautfarbe, Salz- Riesenwuchs, anomale
haushalt und beein- Geschlechts-
flußt die meisten entwicklung
Organsysteme des Unterfunktion:
Körpers Zwergwuchs,
geschlechtliche
Unterentwicklung
Schilddrüse Hals beherrscht Ver- Überfunktion:
(neben brennungsprozesse Nervosität, Ge-
dem im Innern des Körpers wichtsverlust, Herz-
Adams- klopfen
apfel) Unterfunktion:
Trägheit,
Haarausfall, Kälte-
empfindlichkeit
Nebenschild- an den regulieren Kalzium- Überfunktion:
drüsen Schild- stoffwechsel und Kalziumspiegel
drüsen sorgen für Aufrecht- steigt, was
erhaltung des vielleicht Bildung
normalen Kalzium- von Nierensteinen
spiegels im Blut hervorruft
Unterfunktion:
Kalziumspiegel
sinkt, was Ner-
vosität verursacht
Thymusdrüse hinter Abwehr von Krank- anfällig
dem heitskeimen gegenüber
Brustbein Infektionen
über den
großen
Gefäßen
des Herzens
Bauch- in der erzeugt Insulin, Überfunktion der
speichel- Bauch- reguliert Zucker- Inselzellen:
drüse höhle, stoffwechsel; er- niedriger Blut-
dicht zeugt auch Ver- zuckerspiegel
hinter dauungsfermente Unterfunktion der
dem Inselzellen:
Magen Diabetes mellitus
(Zuckerkrankheit)
Nebennieren am ermöglichen dem Schwierigkeiten, mit
oberen Körper, sich plötzlichen Bean-
Pol der Streßsituationen spruchungen des
Nieren anzupassen; wirken Körpers, mit Streß-
antiallergisch und situationen, fertig
entzündungshemmend zu werden
Keimdrüsen männ- Hoden erzeugen Sterilität und
(Hoden, liche: Spermien und be- zahlreiche Störungen
Eierstöcke Hoden- wirken Ausbildung in Verbindung mit
sack der männlichen Ge- der geschlechtlichen
weib- schlechtsmerkmale; Entwicklung
liche: Eierstöcke produ-
Becken zieren Eizellen und
bewirken Ausbildung
der weiblichen Ge-
schlechtsmerkmale
[Übersicht auf Seite 17]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
EPIPHYSE
HYPOPHYSE
SCHILDDRÜSE
NEBENSCHILDDRÜSEN
THYMUS
NEBENNIEREN
BAUCHSPEICHELDRÜSE
EIERSTÖCKE (bei der Frau)
HODEN (beim Mann)