Ein „Schmelztiegel“ vieler Kulturen
Vom „Awake!“-Korrespondenten in Australien
BIST du schon einmal in Australien gewesen? Nein? Aber sicherlich hast du schon von den heißen Trockengebieten und der ausgedehnten Buschlandschaft dieses Kontinents gehört. Soll das heißen, daß sich die Bevölkerung Australiens vorwiegend aus harten Männern und Frauen vom Typ eines Pioniers zusammensetzt?
Natürlich stimmt es schon, daß es auf dem australischen Kontinent riesige Wüstengebiete gibt. Australien, das bloß um ein Viertel kleiner ist als Europa, hat jedoch nur 13 Millionen Einwohner. Das entspricht 3 Prozent der Bevölkerung Europas. Mit Recht kann man die Australier als ein Volk von Stadtbewohnern bezeichnen, denn über die Hälfte der Bevölkerung lebt in den Städten.
Bei diesen Städten handelt es sich aber keineswegs um primitive „Pionier“städte. Im Gegenteil, in einigen davon gibt es Wolkenkratzer, Verkehrschaos und ein Gewimmel von Fußgängern ähnlich wie in New York, London und in anderen Großstädten der Welt. Für Touristen stehen Hotels und Motels zur Verfügung. Außerdem gibt es Restaurants, in denen Nationalgerichte aus aller Herren Länder serviert werden.
Das Ungewöhnliche an der australischen Bevölkerung ist die Tatsache, daß sie in den letzten Jahren sehr rasch gewachsen ist. Seit 1945 ist ihre Zahl um fast sechs Millionen gestiegen. Wie kommt das? Der Bürgermeister einer Stadt im Westen Australiens, wo Eisenerz gefördert wird, sagte über die Stadtbevölkerung: „Die meisten sind nicht in Australien geboren — ich zum Beispiel auch nicht; ich wohne erst seit 17 Jahren hier; geboren bin ich in Deutschland. Das hier ist ein Schmelztiegel, und das ist gut.“ Etwa 40 Prozent der Bevölkerung dieses Kontinents sind seit Kriegsende eingewandert.
Warum ist die Einwanderung eine so bedeutende Quelle des australischen Bevölkerungswachstums? Es wird interessant sein, sich kurz mit den wichtigsten historischen Daten vertraut zu machen.
Die ersten Einwanderer
Die Urbevölkerung Australiens stammt wahrscheinlich aus Asien und kam über den Malaiischen Archipel (Indonesien). Die Ureinwohner, die eigentlichen Australier, sind immer noch größtenteils Nomaden. Als Behausung dient ihnen der Windschirm, und sie treiben keinen Ackerbau.
Aber man darf sich durch die einfache Lebensweise vieler Australier nicht täuschen lassen. Das bedeutet nämlich nicht, daß es ihnen an Intelligenz fehlt. Ein Verwalter einer Eingeborenensiedlung sagte: „Sie denken einfach nicht so wie wir.“ Ein Beispiel für die Intelligenz der Ureinwohner ist, wie die Encyclopædia Britannica (Ausgabe 1976) schreibt, die Tatsache, daß es unter der Urbevölkerung rund 260 Sprachen gibt. „Jeder Stamm spricht wenigstens eine Sprache, aber vielerorts beherrscht jeder zwei oder noch mehr Sprachen. ... Die Grammatik der australischen Sprachen ist im großen und ganzen recht kompliziert.“
Im 16. und 17. Jahrhundert u. Z., als Australien noch ganz dünn besiedelt war, entdeckten portugiesische, spanische, niederländische und britische Seefahrer Teile des Kontinents und fertigten eine Karte von der Küste an. Sie gründeten indessen keine Siedlungen. Im Jahre 1770 ergriff James Cook Besitz von der Ostküste Australiens für die britische Krone.
Kurz danach begann die Einwanderung, aber auf eine höchst ungewöhnliche Weise. Wieso? Zu Beginn des 18. Jahrhunderts verschickten die Engländer ihre Sträflinge in die dreizehn nordamerikanischen Kolonien. Nach dem Abfall dieser Kolonien im Jahre 1776 suchten die Engländer ein geeignetes Land, das sie als Strafkolonien benutzen konnten. Die erste Strafkolonie wurde 1788 in Sydney (Neusüdwales) im südöstlichen Australien gegründet. Die ersten „Einwanderer“ waren somit Sträflinge aus England. Viele dieser Gefangenen blieben, nachdem sie ihre Strafe verbüßt hatten, in Australien.
Bodenschätze locken
In jenen Jahren kamen nur wenige freie Siedler nach Australien. Damals wurde die Einwanderung solcher Siedler nicht gefördert. Aber dann geschah etwas, wodurch ein Wandel eintrat.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in Australien Gold entdeckt. Dieses Edelmetall lockte nun Abenteurer aus aller Welt an. Deutsche, Ungarn, Skandinavier, Polen, Amerikaner und Chinesen kamen nach Australien, um Gold zu suchen. Von da an wurden keine Sträflinge mehr nach Australien deportiert.
Aber auf diesem Kontinent wurde nicht nur Gold gefunden, sondern auch andere wertvolle Metalle wie Nickel, Kupfer, Aluminium, Zink und Eisen. Ein Angestellter einer Eisenerzgrube in Westaustralien sagte vor kurzem: „Diese Lagerstätte gehört zu den reichsten Lagerstätten der Welt. Sie ist 6,5 km lang. 1,2 km breit, und ihre Mächtigkeit beträgt über 150 m. Wenn sie erschöpft ist, gibt es noch andere.“ In jüngster Zeit sind in Australien große Vorkommen an wertvollen Metallen entdeckt worden.
Aber trotz dieses Reichtums an Bodenschätzen betrug die Einwohnerzahl Australiens gleich nach dem Zweiten Weltkrieg nur 7 491 000 — ein Einwohner je Quadratkilometer. Es fehlte an Wohnungen, Schulen und Krankenhäusern. Die Kohlen- und Stahlproduktion war gering; auch das Verkehrswesen lag danieder. Nicht selten waren zeitweise ganze Städte ohne Strom. Man benötigte dringend Arbeitskräfte. Wie konnten sie beschafft werden?
Ein „Schmelztiegel“ entsteht
Im Jahre 1945 begann die Regierung die Einwanderung zu fördern. Die Zeit für ein solches Unternehmen war günstig, denn viele Europäer, verließen nur zu gern ihr vom Krieg verwüstetes Land, um in Australien ein neues Leben zu beginnen.
Aus den spärlichen Einwandererkontingenten nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich schließlich ein Einwandererstrom. Man schätzt, daß seit Kriegsende über drei Millionen Personen in Australien eingewandert sind: Italiener, Griechen, Niederländer, Westdeutsche, Jugoslawen, Polen, Österreicher und in letzter Zeit auch Südamerikaner. Rund 65 Prozent der Neuankömmlinge erhielten von der australischen Regierung finanzielle Unterstützung. Viele bezogen Wohnungen in den von der Regierung zur Verfügung gestellten Häusern. Als Folge dieser Masseneinwanderung hat sich die australische Bevölkerung seit 1945 fast verdoppelt.
War es vernünftig, Angehörige so vieler verschiedener Völker anzusiedeln? Anfänglich meinten Kritiker, das Einwanderungsprogramm würde zu einer Katastrophe führen. Sie wiesen auf die Feindschaft hin, die sich in der Vergangenheit zwischen weißen und chinesischen Goldgräbern entwickelt hatte. Auch die Anwerbung billiger Arbeitskräfte für die Zuckerplantagen im tropischen Norden hatte zu einem schwelenden Groll gegen Einwanderer, die keine Angelsachsen waren, geführt. Würde das Einwanderungsprogramm der Regierung alte Fehden wiederaufleben lassen und schließlich zu Gewalttätigkeiten führen?
Anfänglich haben die vielen Einwanderer mit den fremden Sprachen und Kulturen, ihren anderen Arbeits-, Lebens- und Eßgewohnheiten einen gewissen Unwillen hervorgerufen. Ferner waren viele der „neuen Australier“ (wie man die Einwanderer nannte) sehr flinke Arbeiter. Das ärgerte einige der „alten“ australischen Arbeiter, weil sie Angst hatten, ihre Arbeit zu verlieren. „Sie nennen uns Ausländer“, sagte ein portugiesischer Farmer, der sich in Carnarvon am äußersten Westzipfel Australiens niedergelassen hat. „Die alteingesessenen Australier lieben uns nicht, weil wir in ihren Augen zu fleißig sind: Wir bauen Gemüse wie Tomaten und Paprika an. Wir verstehen uns darauf. Wir arbeiten gern. Heute morgen habe ich 1 100 Steigen Tomaten weggeschickt.“
Abgesehen von diesen Problemen gab es für einige Einwanderer auch Probleme psychischer Art. Viele Immigranten mußten sich hier an ein ganz neues Leben gewöhnen. Manch einer litt unter Heimweh. Ferner lernten die Kinder die englische Sprache schneller als die Eltern. Die Kinder mußten dann dolmetschen und auch andere Pflichten übernehmen, die ihre Eltern, da sie der englischen Sprache nicht mächtig waren, nicht erfüllen konnten. Auch wurden die Kinder zwischen der strengen Erziehung, die in Südeuropa üblich ist, und den freiheitlichen Auffassungen der australischen Gesellschaft hin und her gerissen.
Nutzen aus vielen Kulturen
Im großen und ganzen haben sich jedoch keine ernsten Schwierigkeiten ergeben. Arbeiter, die aus verschiedenen Ländern stammen, haben die Erfahrung gemacht, daß sie voneinander lernen können. Ohne die Einwanderer hätte sich die Industrie niemals so gut entwickelt. Jetzt hört man auf der Straße und in vielen Häusern nicht nur Englisch, sondern auch verschiedene andere Sprachen.
In vielen Läden hängen Schilder aus, auf denen steht, welche Sprachen das Verkaufspersonal spricht. Die Betriebszeitung eines Stahlwerkes in Wollongong (Neusüdwales) erscheint viersprachig. Etwa die Hälfte der 20 000 Arbeiter dieses Werkes sind Einwanderer aus rund vierzig verschiedenen Ländern.
Die Älteren unter den Einwanderern versuchen, ihre Kultur zu erhalten, was für Australien eine Bereicherung ist. So sieht man italienische Zuckerrohrstädtchen, griechische Fischerdörfer und deutsche Weinberge. Sogar einen chinesischen Tempel gibt es hier. Wegen seiner einzigartigen Bauweise zählt er zu den historischen Baudenkmälern, die dem Denkmalschutz unterstehen.
Jehovas Zeugen freuen sich, ihren Mitmenschen in diesem „Schmelztiegel“ die biblische Wahrheit zu übermitteln. In manchen Gebieten müssen sie, wenn sie predigen gehen, biblische Schriften in mehreren Sprachen mitnehmen. Es gibt hier zwanzig große Versammlungen für griechisch, italienisch, spanisch, serbokroatisch und arabisch sprechende Personen. Es werden auch regelmäßig Zusammenkünfte in Ungarisch, Portugiesisch und Syrisch abgehalten. Die biblische Wahrheit in der eigenen Muttersprache zu hören hat Tausende von Einwanderern bewogen, große Änderungen vorzunehmen, um im Einklang mit den biblischen Grundsätzen zu leben.
Die australische Bevölkerung stellt eine pluralistische Gesellschaft dar, so komplex wie irgendeine andere in der Welt. Doch der warme Händedruck, mit dem der Australier einen Besucher begrüßt, verrät diesem, daß der Australier sich durch eine schlichte Herzlichkeit auszeichnet. Möchtest du nicht auch einmal nach Australien zu Besuch kommen?