Das Gebet — leeres Ritual oder bedeutungsvolle Kommunikation?
VOM 1. bis 3. Januar feiern die Japaner ihr wichtigstes Fest, und jedermann ist bemüht, das neue Jahr richtig zu beginnen. In den ersten drei Tagen eines neuen Jahres sucht gewöhnlich über die Hälfte der japanischen Bevölkerung einen Schrein oder Tempel auf, wo um Erfolg und Glück im neuen Jahr gebetet wird.
Was würden wir erleben, wenn wir diese Japaner einmal begleiteten?
Am („heiligen“) Brunnen beim Eingang eines Schintoschreins führt ein Japaner eine rituelle Reinigung von Mund und Händen durch. Darauf geht er zum Tempel und wirft Geld in einen großen Opferkasten. Anschließend greift er nach dem dicken, mehrfarbigen Seil der Glocke, die darüber hängt, und zieht daran. Der Holzklöppel schlägt an den Glockenrand und ruft ein mißtönendes Klirren hervor. Der Mann läßt das Seil los und klatscht mehrmals langsam in die Hände, faltet sie und verneigt sich wiederholt. Dann wendet er sich ab und geht weiter. Er hat sein Gebet verrichtet.
Aber wer hat es gehört? War es nur ein leeres Ritual? Dieser Japaner glaubt aufrichtig, sein Gebet sei gehört worden.
Bevor er das Tempelgelände verläßt, bahnt er sich durch die Menschenmenge einen Weg zu einem Stand, wo er einen Talisman oder ein Amulett kauft, vielleicht kauft er auch lediglich ein Stück Papier mit chinesischen Schriftzeichen darauf oder einen Pfeil, an dem Amulette hängen.
Worum hat er gebetet? Wahrscheinlich um Frieden, Sicherheit, Glück und Reichtum. Zum Beispiel sagte ein Schintopriester: „Sie spenden 100, 1 000 oder 10 000 Yen [0,5; 5; 50 US-Dollar], beten aber um Hunderttausende, ja um Millionen Yen. Sie geben wenig, wünschen sich aber viel.“
Ein großer Teil der Japaner besucht die Tempel nur zu Beginn des neuen Jahres — so wie manche, die sich Christen nennen, auch nur zu Ostern zur Kirche gehen —, die Frommen dagegen suchen regelmäßig die Tempel auf. In vielen Häusern gibt es ein kamidana, ein Holzgestell, das an der Wand angebracht ist und auf dem Schintobilder stehen, und/oder ein butsudana, ein buddhistischer Göttersims. Vor diesen verrichten die Familienglieder ihr Gebet: Sie zünden eine Kerze an und mit der Kerzenflamme etwas Weihrauch. Wenn sie vor dem Göttersims knien, schlagen sie mit einem kleinen Holzstäbchen eine Glocke an und wiederholen immer und immer wieder bestimmt formulierte Gebete oder kleine Stoßgebete wie „Namu-Amida-Butsu“ (Ehre dem Buddha Amida!). Das wird zwanzig Minuten oder sogar mehrere Stunden lang in einem monotonen Singsang wiederholt.
Wie verhalten sich Japaner, die sich zum Christentum bekennen? Sie gehen möglicherweise in die Kirche, knien sich ein paar Minuten hin und beten still für sich oder im Flüsterton. Einige lesen ihre Gebete aus einem Buch ab. Das sind meist Leute, die häufig die Kirche aufsuchen, um zu beten. Andere dagegen besuchen die Kirche nur, wenn sie in Not sind. Dann gibt es auch Personen, die eine Gebetsschnur benutzen, an der sie die auswendig gesprochenen Gebete abzählen. Zwischendurch mögen sie den Blick kurz auf ein Kruzifix oder auf irgendein Heiligenbild richten.
Es gibt die verschiedensten Gebetssitten. Zweifellos rufen viele fromme, aufrichtige Personen Gott im Gebet an. Dennoch sollten wir uns fragen: Ist das Gebet eine bedeutungsvolle Kommunikation oder ein leeres Ritual?
[Bild auf Seite 5]
Mit Gebeten beschriebene Papierstreifen, die bei einem schintoistischen Schrein an einen Zweig gebunden werden