Eine Mutter erzählt
WIR waren Mitte 20 und erwarteten unser erstes Kind. Oh, wie sehr wir uns das Kind wünschten! Ich achtete gewissenhaft auf meine Ernährung, hatte eine gute Schwangerenfürsorge und tat alles, was ich konnte, um ein normales, gesundes Baby zur Welt zu bringen.
Als die Wehen einsetzten, gingen wir erwartungsvoll ins Krankenhaus. Aber wie lange es noch dauerte! Nach mehr als 24 Stunden ordnete der Arzt aus Sorge, bei dem Baby könnten Anzeichen von Erschöpfung auftreten, eine durch Medikamente herbeigeführte Unterstützung der Wehen an.
Mehrere Stunden später erwachte ich und erfuhr, daß wir ein Mädchen bekommen hatten. Wie begeistert wir doch waren, als wir Jessica zum erstenmal sahen! Uns fiel auf, daß sie im Unterschied zu den anderen Neugeborenen sehr rot war. Der Arzt versicherte uns, sie sei normal und gesund; es sei ein vorübergehender Zustand, der durch die schwere Entbindung verursacht worden sei.
Nun, bei jedem Säugling können die ersten drei Monate sehr anstrengend sein. Aber Jessica schien immer besonders lange zu schreien. Der Arzt tat das mit der Bemerkung ab: „Das wird sich schon legen.“ Jessica begann mit etwa sechs Monaten zu krabbeln. Sie schien voller Energie zu sein, und ihre Aufmerksamkeit wanderte schnell von einer Sache zur anderen. Jeder, der sie beobachtete, sagte: „Mir wird allein vom Zusehen schlecht.“
Als Jessica fast zwei Jahre alt war, verschlimmerte sich alles. Sie fiel immer hin und verletzte sich. Beim geringsten Anlaß weinte sie, und oft tat sie das ohne erkennbaren Grund. Bei den Mahlzeiten flossen gewöhnlich sehr viele Tränen. Am schlimmsten waren die Temperamentsausbrüche. „Warum denn schon wieder?“ fragten wir. „Nur weil wir gesagt haben: ,Jetzt gibt es keinen Keks mehr.‘?“
Natürlich hatte ihr Verhalten auch amüsante Seiten. Als wir einmal in einem Kaufhaus waren, entwischte sie in die Schaufensterauslage, zog eine Kleiderpuppe aus und versuchte, sie wegzutragen. „Was denkt sie sich nur dabei?“ fragten wir uns.
Dann waren da noch die Katastrophen zu Hause. Ständig sorgte sie für ein Durcheinander. Meine Geduld war bald erschöpft. Wie konnte ich nur mit diesem Kind fertig werden, das zwar erst zwei Jahre alt war, aber nicht vor Mitternacht schlafen ging und schon beim Morgengrauen aufstand? Selbst Beobachter sagten: „Sie ist eine Nervensäge.“ Wir versuchten, unnachgiebig zu sein. Aber warum half denn nichts?
Hyperkinetisch?
Um diese Zeit besuchte mich eine Freundin. Als sie die Situation sah, erzählte sie uns, ihr Kind sei hyperkinetisch, und riet uns, doch einmal einen Arzt aufzusuchen, der auf Hyperkinese spezialisiert sei. Sie war davon überzeugt, daß das ihrem Sohn geholfen hatte, und drängte uns, etwas zu tun.
Hyperkinetisch? fragten wir uns. Wir wollten nicht voreilig eine verkehrte Schlußfolgerung ziehen. Aber nach einem langen Arztbesuch und einer Beobachtung über längere Zeit wurde Jessica mit Gewißheit als hyperkinetisch eingestuft. Der Arzt empfahl, den Zucker aus ihrer Ernährung wegzulassen und ihr bestimmte Vitamine zu geben, da er annahm, daß ein Mangel an verschiedenen Nährstoffen ein chemisches Ungleichgewicht in ihrem Körper bewirkte, das Hyperkinese hervorrief.
Wir beobachteten schon seit langem, daß Jessica immer, nachdem sie bestimmte Nahrungsmittel — vor allem „Schundnahrung“ — gegessen hatte, wie aufgezogen war. Nun glaubten wir, etwas gefunden zu haben, wonach wir uns richten konnten. Wir begannen über das, was sie aß, und über ihr Verhalten Buch zu führen. Zucker schien nicht der Alleinschuldige zu sein; manche Nahrungsmittel mit Zucker machten ihr anscheinend nichts aus.
Kurz danach fiel uns ein Zeitungsartikel über das Buch eines Allergologen in die Hände, der beschrieb, wie künstliche Farbstoffe und Geschmacksstoffe mit Hyperkinese in Verbindung stehen. Das war endlich etwas Genaueres, dachten wir. Was wir in dem Buch lasen, leuchtete uns ein. Konnte das Jessicas Problem sein?
Unser Verdacht schien sich zu bestätigen. Als wir alle künstlichen Farb- und Geschmacksstoffe mieden, erreichten wir hervorragende Ergebnisse. Jessica beruhigte sich beträchtlich. Es war, als würde ihr Motor, der früher für ihren Körper zu schnell lief, jetzt mit normaler Drehzahl laufen.
Künstliche Farb- und Geschmacksstoffe meiden — nichts leichter als das, dachten wir ... bis wir anfingen, Etiketten zu lesen. Diese Stoffe waren überall. Abgesehen davon, hat man es nicht leicht, wenn man im Restaurant oder bei Freunden ißt. Allerdings gab es Zeiten, wo Jessica Nahrungsmittel mit solchen Zusätzen aß, ohne daß etwas passierte. Also war sie nicht gegen jeden künstlichen Farb- oder Geschmacksstoff allergisch.
Probleme in der Schule
Die Zeit verstrich. Als Jessica viereinhalb Jahre alt war, kam ihr Bruder Christopher zur Welt. Wir dachten, wir könnten uns schließlich eines normalen Lebens erfreuen. Auch andere bemerkten die Veränderung in Jessicas Verhalten. Zum erstenmal sahen wir ihre Persönlichkeit richtig zum Durchbruch kommen.
Nun nahm ihr Problem eine neue Dimension an. Wir wußten bereits, daß Jessica sehr unbeholfen war, oft hinfiel und etwas verschüttete; sie hatte immer Kratzer und Prellungen. Bald würde sie in die Schule kommen. Wir machten uns Sorgen. Warum hatte sie als Fünfjährige so große Schwierigkeiten, einen Buntstift zu halten und auf Papier zu malen? Würde sie Lernschwierigkeiten haben?
Die Vorschule begann. Jessica war so begeistert und glücklich, daß sie mit Eifer lernte. So fing sie mit dem in der Vorschule üblichen Malen, Schneiden und Aufkleben an. Bald wurden die Schwierigkeiten offenkundig, die sie bei diesen Betätigungen hatte.
Zu Hause beschäftigten wir uns eingehend mit ihr. Die vielen Stunden, die die Hausaufgaben erforderten, waren oft schmerzlich für sie und für uns. Am Ende jenes Jahres überlegten wir: „Warum fällt es einem sonst so aufgeweckten Kind schwer, die Buchstaben des Alphabets richtig zu schreiben?“ Was uns noch verwunderte: „Warum schrieb sie ihren Namen immer Jesscia? Warum verdrehte sie häufig Buchstaben — zum Beispiel b und d?“
In der ersten Klasse machte Jessica auf manchen Gebieten schnelle Fortschritte. Sie schien ziemlich mühelos zu lesen, aber in Mathematik und Rechtschreibung war sie sehr schwach. Eigenartigerweise schnitt sie bei den Prüfungen entweder sehr gut oder äußerst schlecht ab. „Ich habe es nicht verstanden“ oder: „Ich konnte auf der Tafel nichts erkennen“, erklärte sie dann.
Sofort ließen wir Hör- und Sehtests machen, bei denen es sich zu unserer großen Überraschung zeigte, daß ihr Hör- und Sehvermögen normal waren. Aber die Situation wurde nur noch schlimmer. Mit der Schule waren viele Kopf- und Magenschmerzen verbunden. Wiederholt heulte sie im Klassenzimmer und dann noch mal, wenn sie nach Hause kam.
Sogar zu Hause mußten wir ihr als siebenjährigem Kind immer wieder sagen, was sie zu tun hatte, als ob sie uns nicht hörte. Sie schien geistig abwesend zu sein. Die Schuhe verwechselte sie stets miteinander, und die Kleider zog sie verkehrt an. Sie konnte mit den Wochentagen nichts anfangen und kannte nicht den Unterschied zwischen gestern, heute und morgen.
In der zweiten Klasse wurden Jessicas Schulprobleme noch schlimmer. Wie war es nur möglich, daß sie an einem Tag die Wörter kannte und an einem anderen Tag beim Diktat Buchstaben vertauschte, indem sie beispielsweise siad statt said schrieb? Mit der Mathematik war es nicht besser. Leichte Rechnungen wie 2 + 2 = 4 schienen ihr kaum oder gar nicht einzuleuchten. Der Lehrer schrieb uns immer wieder: „Sie müssen Jessica zu Hause helfen.“ Wir waren verzweifelt.
Auch noch lernbehindert?
Bei einem unserer vielen Vorsprachen in der Schule baten wir schließlich darum, den Spezialisten für Lernbehinderung sprechen zu dürfen. Wir beschrieben Jessica und ihre Lernschwierigkeiten. Ein psychologischer Test wurde angeordnet. Wir waren gespannt auf die Ergebnisse.
Der Befund war eindeutig. Jessica litt tatsächlich an Lernbehinderung. Sie hatte sowohl mit der akustischen als auch mit der visuellen Wahrnehmung Probleme. Das visuelle und das akustische Gedächtnis lagen weit unter dem Durchschnitt, und es gab bedeutende Probleme bei der Muskelkoordination.
Es tat weh, diesen Tatsachen ins Auge zu sehen, aber wir akzeptierten sie. Der Psychologe erklärte uns, was die Ergebnisse in Jessicas Fall bedeuteten. Mit der richtigen Hilfe könnte sie durch besondere Lehrmethoden in den Dingen unterwiesen werden, die sie nicht begriffen hatte, und im Laufe der Zeit könnte sie den Vorsprung ihrer Klasse aufholen.
Wir atmeten auf. Sie hatte es also nie an Aufmerksamkeit fehlen lassen! Es war nicht ihre Schuld, daß ihr Gehirn die Signale, die es von den Augen und Ohren erhielt, falsch auswertete. Jetzt konnten wir unsere Tochter zum erstenmal richtig verstehen.
Es liegt nun schon einige Jahre zurück, daß Jessicas Lernbehinderung festgestellt wurde. Wir bedauern nur, daß wir bei der Suche nach der Ursache ihrer Probleme wertvolle Jahre verloren haben. Abgesehen von der besonderen Hilfe, die sie in der Schule erhält, ist in unseren Augen ein Privatlehrer sehr hilfreich. Sie hat größere Fortschritte gemacht, als wir erwarteten. Ihr Selbstwertgefühl ist zurückgekehrt. Statt ein frustriertes Kind zu sein, das sich unnütz vorkommt und mit schweren emotionalen Problemen zu kämpfen hat, weiß sie jetzt, daß sie lernen kann. Sie ist weitaus seltener unglücklich, und das Band der Liebe zwischen uns und ihr ist stärker geworden.
Was die Zukunft betrifft, ist uns klar, daß Jessica vielleicht länger braucht, um die Reife eines Erwachsenen zu erreichen. Da wir aber jetzt das Problem kennen und gelernt haben, damit umzugehen, werden wir tun, was wir können, um ihr zu helfen, ihr Potential voll zu nutzen. (Eingesandt.)
[Herausgestellter Text auf Seite 12]
Wir beobachteten schon seit langem, daß Jessica immer, nachdem sie „Schundnahrung“ gegessen hatte, wie aufgezogen war.
[Herausgestellter Text auf Seite 13]
Wie war es nur möglich, daß sie an einem Tag die Wörter kannte und an einem anderen Tag beim Diktat Buchstaben vertauschte, indem sie beispielsweise siad statt said schrieb?