Vermächtnis unserer unruhigen Zeit
DAS Flüchtlingsproblem ist nicht neu. Die Geschichte berichtet, daß schon früher große Menschenmassen ihre Heimat verlassen mußten. Die Entstehung der europäischen Staaten zum Beispiel ist größtenteils die Folge einer Völkerwanderung, ausgelöst durch den Zerfall des Römischen Reiches. Man könnte annehmen, daß solch tragische Ereignisse der Vergangenheit angehören. Leider ist das nicht der Fall. Ein ehemaliger Hoher Flüchtlingskommissar der UN wies vor kurzem darauf hin, daß „der Massenexodus allmählich ein erschütterndes und permanentes Merkmal unserer Zeit“ wird. Warum?
Die Ära der Flüchtlinge
Wie die Bibel vorausgesagt hat, ist der Friede im Jahre 1914 von der Erde weggenommen worden (Offenbarung 6:4). Die Schüsse, die den Ersten Weltkrieg einleiteten, signalisierten umfassende soziale, politische und wirtschaftliche Veränderungen. Der Ausbruch eines zweiten Weltkrieges unterstrich diese Tatsache, wurden doch durch ihn in Europa rund 11 Millionen Menschen ihrer Heimat beraubt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühte man sich vor allem, diese Entwurzelten wieder anzusiedeln. Der Krieg hatte aber auch dem Kolonialismus den Todesstoß versetzt. In Asien und Afrika wurden neue Staaten gegründet. Für ihre „Unabhängigkeit“ bezahlten sie mit blutigen Auseinandersetzungen sowie mit sozialem und wirtschaftlichem Chaos. Tausende von Europäern wurden aus ihrer Wahlheimat vertrieben. Innere politische Kämpfe hatten auch den Exodus Tausender Einheimischer zur Folge. Und so ist es noch heute. Aus Äthiopien sind in den vergangenen sechs Jahren zufolge von Krieg und Dürre eine Million Menschen geflüchtet. In der Zeit von 1972 bis 1979, als Simbabwe unter Guerillaaktionen zu leiden hatte, flohen aus diesem Land über eine viertel Million Menschen.
In Asien sowie in Mittel- und in Südamerika kam es aufgrund politischer Veränderungen zu ähnlichen Massenfluchten. Im Jahre 1947 gab Großbritannien Indien die Freiheit. Der riesige Subkontinent wurde in die Staaten Indien und Pakistan geteilt. Diese Teilung löste aber ein furchtbares Blutbad aus. Die Hindus flohen aus Pakistan und suchten Zuflucht in Indien, während die Moslems Indien verließen und nach Pakistan flüchteten. Es war vermutlich der größte Bevölkerungsaustausch der Geschichte — 18 Millionen Menschen. Rund 10 Prozent der Flüchtlinge erreichten die neue Heimat nicht, sondern wurden unterwegs entweder getötet oder verhungerten oder starben an Erschöpfung. Auch die Teilung Koreas in Nord- und Südkorea löste eine Flüchtlingswelle aus — 1,8 Millionen Menschen flüchteten. Und Thailand hat fast 200 000 Menschen aus Kambodscha, Vietnam und Laos aufgenommen, die wegen des Krieges in ihren Ländern geflüchtet sind.
Diese großen Bevölkerungsverschiebungen sind nur ein Anzeichen dafür, daß die Probleme, die die Menschen seit 1914 quälen, außer Kontrolle geraten sind. Ein weiteres Anzeichen dafür sind die heutigen „Wirtschaftsflüchtlinge“.
Jetzt nicht mehr genehm?
„TÜRKEN RAUS!“ Diese an eine Wand geschmierten Worte verraten Feindschaft gegenüber den 1,4 Millionen in Deutschland lebenden türkischen Gastarbeitern. Der Ausländerhaß besteht, obschon die Gastarbeiter von Deutschland angeworben wurden. Ihre mißliche Lage ist typisch für die „Wirtschaftsflüchtlinge“. Solche Personen verlassen ihr Land nicht, weil sie politisch oder religiös verfolgt werden, und gelten deshalb nicht als echte Flüchtlinge. Vielmehr flüchten sie vor einer bankrotten Wirtschaft, vor Arbeitslosigkeit, unerträglicher Inflation oder vor dem Hunger. Aber wie die echten Flüchtlinge, so stoßen auch sie oft auf Feindseligkeit unter der Bevölkerung des Landes, in das sie geflüchtet sind.
Das erinnert uns an eine Situation, die sich vor langer Zeit in Ägypten entwickelte. Die Israeliten zogen ursprünglich als „Fremdlinge“ nach Ägypten, um dort Getreide zu holen, denn bei ihnen herrschte Hungersnot. Pharao, der sich den Israeliten gegenüber verpflichtet fühlte, weil Joseph die Hungersnot vorhergesagt und entsprechend Vorsorge getroffen hatte, lud sie ein, in Gosen zu wohnen (1. Mose, Kapitel 41, 42 und 47). Aber sie waren nicht lange gern gesehen.
„Wachsende Flüchtlingsfeindlichkeit“
Die Spannungen zwischen den Israeliten und den Ägyptern verstärkten sich zufolge der Unterschiede in Sprache, Kultur und Religion. Den ägyptischen Bauern mißfiel besonders, daß die Israeliten soviel Weideland für ihre Herden brauchten. Dann kam es in Ägypten zu einem Regierungswechsel. Die Israeliten wurden nun plötzlich von denen versklavt, zu denen sie bis dahin ein freundschaftliches Verhältnis gehabt hatten (2. Mose 1:8-11).
Ähnlich ist es heute: Während eines Wirtschaftsbooms sind Ausländer mancherorts gern gesehen, weil viele von ihnen bereit sind, Arbeiten zu verrichten, die den Einheimischen nicht gut genug sind. In Europa gibt es beispielsweise 12,5 Millionen Gastarbeiter. Die Business Week schrieb: „Wegen des geringen Wirtschaftswachstums seit zweieinhalb Jahren und des Rückgangs in der Schwerindustrie und neuerdings auch wegen der Automation in den Fabriken sind die Arbeitsplätze rar, und die ausländischen Arbeitnehmer werden immer häufiger eine Zielscheibe des Fremdenhasses.“
In den Vereinigten Staaten wird die Situation noch dadurch erschwert, daß viele der „Wirtschaftsflüchtlinge“ illegal in das Land gekommen sind. Seit 1972 sollen 40 000 bis 50 000 Haitianer illegal eingewandert sein. Und aus Mexiko, dessen Wirtschaft in einer Krise steckt, strömen täglich Tausende in die USA und suchen dort verzweifelt Arbeit.
Aber die Scharen von legitimen Flüchtlingen und von „Wirtschaftsflüchtlingen“ belasten die Staatskasse nicht wenig, und anscheinend ist die Toleranzschwelle jetzt erreicht. Zum Beispiel schrieb die Zeitschrift Time: „Zufolge der rückläufigen US-Wirtschaft und des finanzschwachen Sozialsystems macht sich im Kongreß eine wachsende Flüchtlingsfeindlichkeit breit.“ Auch in anderen Ländern sind Flüchtlinge nicht mehr genehm.
Die vor kurzem in Nigeria verfügte Ausweisung der Ausländer zeigt, wie schnell „Wirtschaftsflüchtlinge“ unerwünscht sein können.
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Viele „Wirtschaftsflüchtlinge“ wandern illegal in ein Land ein, um sich dort Arbeit zu suchen