Der schaurige Urwaldchor
Von unserem Korrespondenten in Surinam
ES BEGANN mit unheimlichen Lauten: „A-hö, a-hö, a-hö!“ Dann schlossen sich mehr Stimmen dem heulenden Gesang an, der sich zu einem langen, vibrierenden Crescendo steigerte wie das Heulen des Sturms, wenn er durch einen Tunnel braust. Die Schreie ließen für einen Augenblick nach, aber nur, um dann mit größerer Lautstärke zu ertönen. Schließlich verstummte das Gebrüll, und das Echo erstarb. Allmählich wurde die Urwaldluft wieder vom Summen der Insekten und vom Zwitschern der Vögel erfüllt.
Ich lauschte erstaunt, während ich mir die Künstler, die dieses schaurige Urwaldkonzert gegeben hatten, eingehend betrachtete: fünf kräftige baboensa, wie der rote Brüllaffe in Surinam genannt wird.
„Hier in Surinam“, erklärte mir ein Biologe, „sind sie überall zu finden, von den sumpfigen Küstengebieten im Norden bis zum dichten Urwald im Süden. Sie leben in Gruppen von vier bis acht Affen — manchmal auch mehr — zusammen und halten sich vorwiegend in Baumkronen auf, und zwar in Waldstücken an Flüssen.“
Während ich zusah, kam der Hauptdarsteller, ein altes Männchen — stehend fast 1 m groß, kräftiger und schwerer als die anderen vier —, näher und brummte. Sein Kopf bestand zur Hälfte aus dem riesigen Unterkiefer, der tief zwischen den Schultern lag, weshalb er den Eindruck erweckte, er sei bucklig.
Das nackte Gesicht bildete einen Gegensatz zu dem braunroten Fell. Und ein ausgeprägter orangebrauner Bart, der seine Würde unterstrich, bedeckte das Organ, das all die durch Mark und Bein gehenden Schreie erzeugt hatte — die vorgewölbte Kehle. Warum ist sie vorgewölbt? Die Jívaro-Indianer haben dafür eine amüsante Erklärung:
Eines Tages, so die Erzählung, zeigte der Brüllaffe dem Spinnenaffen, wie man Kokosnüsse durch Aneinanderstoßen aufknackt. Als der Spinnenaffe dies versuchte, geriet er mit beiden Daumen zwischen die Nüsse und schlug sie sich ab. Entschlossen, seinen Verlust zu rächen, sagte er dem Brüllaffen: „Du brauchst sie nicht zu knacken. Sie schmecken viel besser, wenn man sie ganz hinunterschluckt.“ Der Brüllaffe befolgte diesen Rat, aber die Kokosnuß blieb ihm im Hals stecken und hinterließ bei ihm und allen seinen Nachkommen die vorgewölbte Kehle als kennzeichnendes Merkmal, wohingegen die Nachkommen des Spinnenaffen keine Daumen haben.
Falls die Jívaro allerdings, nachdem sie einen Affen erlegt hatten, seinen Hals von innen betrachteten, entdeckten sie keine Kokosnuß. Was sahen sie? In der vorgewölbten Kehle befindet sich eine schalenförmige, hohle, große Knochentrommel, die als Resonanzkörper dient. Dieses Organ von der Größe einer Zitrone ist beim männlichen baboen 25mal größer als bei anderen, etwa gleich großen Affen, und es ist unter den Säugetieren einzigartig. Wenn er seine Brust- und Bauchmuskeln zusammenzieht, wird durch eine Öffnung Luft in diesen hohlen Resonanzkörper gepreßt, und seine Stimme verstärkt sich so sehr, daß sie noch in einer Entfernung von über 3 km zu hören ist.
Beobachter haben festgestellt, daß die Brüllaffen in mondhellen Nächten „gesprächig“ werden. Sie verzichten dann gern auf ihre Nachtruhe und stören die anderer. Man denke aber nur nicht, daß sie dafür am nächsten Morgen schlafen. Kurz vor Sonnenaufgang sind sie schon wieder unterwegs, um zu brüllen, und wenn der Tag zu Ende geht, stellt sich der Chor nochmals auf und bringt ein Abendständchen, allerdings so falsch, daß es fast peinlich wirkt.
Richard Perry, Autor von Wildtierbüchern, schreibt, daß „ein Donnerschlag, ein plötzlicher Regenguß, ein vorüberfliegendes Flugzeug oder auch nur ein Schmetterlingsschwarm“ sie zum Brüllen bringt. Man fragt sich: Gönnen sie sich jemals eine Pause?
„Ja, das tun sie“, erklärte mir ein ehemaliger Zoodirektor. „Die beiden Brüllaffen in meiner Sammlung liebten Sonnenbäder. Sie erwählten sich einen dürren Ast, wickelten ihren Schwanz darum, streckten sich mit dem Bauch nach unten aus und nickten ein. Die langen Arme und Beine ließen sie baumeln.“
Aber selbst Sonnenbaden regt den Appetit an. Auch das alte Männchen in der Gruppe, die ich beobachtete, meinte, daß es Zeit zum Essen sei. Es gab einen glucksenden Schrei von sich, worauf sich die anderen in Bewegung setzten und ihm auf einen anderen Baum folgten. Bei den Brüllaffen hat jeder seinen festen Platz im Gefolge — der Anführer vorn und ein anderes Männchen am Ende. Dazwischen haben die Weibchen ihren geschützten Platz. Manchmal geht ein verspieltes Junges eigene Wege, aber ein tadelndes Brummen reicht, um es wieder auf den rechten Pfad zu bringen. Und dieser Pfad ist immer derselbe. Ein Forscher schrieb, daß sie ihre eigenen Verkehrswege haben und sich auf einer festgelegten Strecke immer durch dieselben horizontalen Äste bewegen.
Beim Fressen kommt ihnen ihr Greifschwanz zugute. Sie wickeln ihn um einen Ast, hängen sich daran, schwingen mit den freien Armen und Beinen hin und her und schnappen nach Früchten, Blüten und Samen. Blätter bilden jedoch ihr Hauptnahrungsmittel — viele verschiedene Arten und große Mengen. Aber Vegetarier sollten sich in acht nehmen. Sie würden nicht gut daran tun, sich an die Nahrung dieser Affen zu halten.
Ein erfahrener Naturforscher sagte mir: „Wenn man sich im Urwald verirrt hat, kann man überleben, indem man das ißt, was die Affen zu sich nehmen.“ Doch die Eingeborenen warnen: „Von der Nahrung der Spinnenaffen können sich Menschen ebenfalls ernähren, aber nicht von dem, was die baboens fressen. Das liegt daran, daß die Brüllaffen giftige Pflanzen fressen. Aus diesem Grund verfärben sich ihre Zähne mit der Zeit braun wie die eines Kettenrauchers.“
Ob weiß oder braun, die Horde zeigt alle Zähne, wenn ihr andere Affen zu nahe kommen. Brüllaffen lieben ihre Ruhe so sehr, daß man sie fast als „ungesellig“ bezeichnen könnte. Aber andere Affen machen sich sowieso nicht viel aus ihnen. Als eine Tierfängerin einmal Mitleid mit einem einsamen Brüllaffenjungen hatte, wollte sie es aufheitern und ihm ein freundliches Affenweibchen als Gefährtin geben. Doch das Weibchen „warf nur einen Blick auf den häßlichen Brüllaffen und fing an zu schreien, als hätte es ein Ungeheuer gesehen“.
William, ein geübter Jäger aus Guyana, entdeckte einmal einen Brüllaffen mit einem Fremden — einem Spinnenaffen. Die beiden standen sich auf einem Ast gegenüber. Sie hätten sich am liebsten gegenseitig umgebracht. William erzählte: „Ihren Schwanz hatten sie um den Ast gewickelt, um sich zu stützen. Mit den freien Armen schlugen sie um sich und versuchten, sich gegenseitig zu schnappen. Sie schrien und bissen. Schließlich gewann der Brüllaffe die Oberhand.“ Stritten sie immer noch wegen der Kokosnuß?
Selbst andere Gruppen roter Brüllaffen erhalten die Botschaft: „Kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten.“ Wenn es eine Gruppe von baboens wagt, in das Revier einer anderen einzudringen, bricht ein „Wortgefecht“ aus, das so lange andauert, bis sich eine Gruppe zurückzieht. Die meisten Forscher schlußfolgern daraus, daß die Hauptbotschaft des Urwaldchors „Haltet Distanz!“ lautet.
Der „Pastor“ in seinem Element
Das Brüllen hört sich für menschliche Ohren wahrscheinlich wie ein heilloses Durcheinander an, aber in Wirklichkeit steckt eine Anordnung dahinter. „Der domri [Pastor] ist der Chorleiter“, sagte Raymond, ein Goldgräber, der die Brüllaffen in der Nähe seines Urwaldcamps beobachtet hat.
„Der domri?“ fragte ich.
„Ja, so nennen wir das alte Männchen. In der Kirche hier ist es üblich, daß der domri die erste Strophe eines Kirchenliedes singt, und dann schließen sich ihm die Kirchenbesucher an. Bei den baboens ist es ähnlich.“
Raymond erklärte weiter, daß der Anführer, bevor das Konzert beginnt, auf und ab geht und die Mitglieder der Gruppe finster anblickt — wie ein strenger Dirigent, der sein Orchester inspiziert. Wenn er zufrieden ist, singt er sich mit einer Reihe tiefer Laute ein. Dann setzen die anderen mit ihrem Gebrüll ein, die Lippen trichterförmig vorgeschoben, während sie sich gegenseitig ernst anblicken. „Sie sehen wirklich drollig aus“, sagte Raymond, „diese mürrisch dreinblickenden Gesichter. Das alles ist Arbeit, nicht etwa Spiel.“
Ihre Feinde
Es gibt jedoch Augenblicke, wo selbst der Chorleiter nicht mehr an Ordnung denkt. Wenn Jaguare oder Harpyien angreifen, herrscht helle Aufregung, und alle Chormitglieder springen aus Angst um ihr Leben hastig davon. Sie würden sogar durch einen Fluß schwimmen, um zu entkommen.
Der gefährlichste Feind des Brüllaffen ist allerdings der Mensch. Obwohl die Brüllaffen durch das Gesetz geschützt sind, werden sie wegen ihres Fleisches gejagt. Eine Studie brachte zutage, daß in einem Indianerdorf mit 450 Einwohnern innerhalb eines Monats 56 Brüllaffen erschossen und verzehrt worden waren. Kein Wunder, daß ihre Zahl in einigen Gebieten abnimmt und daß sich die übrigen Affen noch tiefer in den Urwald zurückziehen.
Aber wann immer ihr Chor aus entfernten Verstecken dringt, erinnern sie daran, daß sie noch da sind, und lassen ihren Ruf erschallen: „Wir sind hier. Haltet Distanz!“
Wird der Mensch die Botschaft verstehen?
[Fußnote]
a Ausgesprochen: „babuns“.
[Herausgestellter Text auf Seite 23]
Seine Stimme verstärkt sich so sehr, daß sie noch in einer Entfernung von über 3 km zu hören ist
[Bildnachweis auf Seite 21]
Foto: Zoological Society of San Diego
[Bildnachweis auf Seite 22]
Foto: Zoological Society of San Diego