Die Geisteskrankheiten entmystifizieren
„Der Gedanke an eine Geisteskrankheit erfüllte mich mit Entsetzen“, erinnert sich Irene. „Ausdrücke wie ‚Schizophrenie‘ oder ‚Depression‘ fehlten in meinem Wortschatz. Mit einer Geisteskrankheit fühlte ich mich gebrandmarkt. Es bedeutete, als ‚verrückt‘ zu gelten oder in eine Irrenanstalt ‚abgeschoben‘ zu werden. Einige meiner Bekannten hielten mich sogar für dämonisiert.“
WAHNSINN, Irresein, Irrsinn. Worte wie diese rufen Ängste wach. Man denkt vielleicht an Gummizellen und Zwangsjacken. Doch nicht jeder psychisch Gestörte gebärdet sich wie ein Tobsüchtiger, noch ist jeder, der durch eine eigenartige Persönlichkeit auffällt, psychisch gestört.
Psychische Störungen äußern sich in einer Vielfalt von spezifischen Symptomen. Die manisch-depressive Psychose zum Beispiel ist sozusagen eine emotionale Schaukel, die zwischen unbändiger Heiterkeit und tiefer Niedergeschlagenheit hin und her pendelt. Bei der typischen Depression leidet der Patient oft unter „einer tiefen, lähmenden und unerbittlichen Niedergeschlagenheit“.a Angstsyndrome wie Phobien können den Betreffenden durch sinnlose Ängste praktisch lähmen.
In diesem und im folgenden Artikel geht es jedoch hauptsächlich um eine Krankheit, die man als den Inbegriff der Geisteskrankheiten bezeichnen könnte.
Schizophrenie — das dunkelste Kapitel der Geisteskrankheiten
Während Irenes Klinikaufenthalt kam es mehrmals vor, daß sie Personen falsch erkannte — sie begrüßte Ärzte und Krankenschwestern als Verwandte, die aber schon lange verstorben waren. Sie bildete sich ein, Gerüche wahrzunehmen, die andere nicht riechen konnten. Dann gelangte sie zu der Überzeugung, das Krankenhauspersonal trachte ihr nach dem Leben. „Man mußte mich einmal sogar im Bett festschnallen“, berichtet sie.
Wie lautete die Diagnose? Schizophrenie. Von dieser Krankheit wird in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa einer von hundert befallen. Jährlich werden allein in den USA über hunderttausend neue Fälle diagnostiziert.b
Ein an Schizophrenie Erkrankter hat keine gespaltene Persönlichkeit im Sinne einer zwei- oder mehrfachen Persönlichkeit (eine andere, aber seltene Störung), sondern eine geschädigte Persönlichkeit. Man betrachte den Fall eines jungen Mannes mit Namen Jerry, der von seinem Arzt als Schulbeispiel für die Schizophrenie beschrieben wird. In dem einen Moment verrät sein Blick völlige Geistesabwesenheit, im nächsten Moment bedrohliche Feindseligkeit. Seine Sprache ist ein zusammenhangloses Gemisch aus Angst und Wahn. Zum Beispiel: „Man hat mich hierhergerufen, um mich auf den elektrischen Stuhl zu bringen.“ Oder: „Das Bild hat Kopfschmerzen.“ Innere Stimmen terrorisieren ihn. Sein Gehirn läuft Amok.
Die Schizophrenie weist ein breites Spektrum bizarrer Symptome auf: Halluzinationen, innere Stimmen, Denkstörungen, sinnlose Ängste und Gefühle, die im Widerspruch zur Wirklichkeit stehen. Wodurch werden diese Symptome hervorgerufen? Vor nur einem Jahrzehnt beschuldigte man die Eltern, ihre Kinder „verrückt“ gemacht zu haben. Jetzt sind einige genau entgegengesetzter Meinung. Ein schizophrenes Kind bedeutet für Eltern gewaltigen Streß und große Strapazen.
Heute sagen die Ärzte, daß es verkehrt war, den Eltern die Schuld zuzuweisen. Natürlich werden Eltern in der Bibel aufgefordert, ihre Kinder nicht zu reizen (Kolosser 3:21). Doch selbst wenn sie dies tun, scheint das allein bei Kindern kaum zu Schizophrenie zu führen. Es spielen Faktoren mit, die weit außerhalb des elterlichen Einflußbereichs liegen.
Die genetische Komponente
Nick und Herbert (Namen geändert) waren eineiige Zwillinge. Nach der Geburt wurden sie voneinander getrennt. Nick wuchs bei liebevollen Stiefeltern auf, Herbert bei seiner gleichgültigen Großmutter. Der Same des Wahnsinns begann schon in jungen Jahren in beiden zu keimen. Nick entwickelte sich zum Dieb und Brandstifter. Herbert neigte auch dazu, Brände zu legen, und außerdem dazu, Hunde zu quälen. Schließlich trat das volle Krankheitsbild der Schizophrenie zutage, und für beide Jungen war eine psychiatrische Anstalt die Endstation.
Zufall? Oder ist die Schizophrenie genetisch verankert? Es sind 14 Fälle bekannt, in denen Zwillinge getrennt voneinander aufwuchsen und einer von beiden an Schizophrenie erkrankte. In neun von diesen Fällen stellte sich die Krankheit beim zweiten Zwilling später ebenfalls ein. Offensichtlich hat die Schizophrenie eine genetische Komponente. Merkwürdigerweise tritt die Krankheit bei Kindern, deren Vater und Mutter schizophren sind, nur in 46 von 100 Fällen auf. „Wäre die Schizophrenie auf ein dominantes Gen zurückzuführen, müßte sie bei 75 % der Kinder auftreten“, heißt es in dem Buch Schizophrenia: The Epigenetic Puzzle (Schizophrenie: das epigenetische Puzzle).
Offensichtlich sind aber nicht nur genetische Faktoren beteiligt. Die Autoren des Buches Mind, Mood, and Medicine (Gemüt, Stimmung und Medizin) äußern folgende Mutmaßung: „Man weiß, daß psychische Erlebnisse — zum Beispiel im Krieg — tiefgreifende Veränderungen der chemischen, hormonellen und physiologischen Körperfunktionen bewirken können. Was psychische Leiden betrifft, so läßt sich bei einer empfänglichen Person oft ein psychisches Erlebnis als der auslösende Faktor feststellen.“ Welche Rolle fällt den Genen hierbei zu? Die Autoren Dr. Wender und Dr. Klein fahren fort: „Alles in allem sind wir der Meinung, daß genetische Faktoren jemanden für gewisse Formen von psychischen Erlebnissen empfänglich machen.“ Demnach wäre die Schizophrenie an sich nicht erblich, wohl aber die Veranlagung dazu.
Veränderungen im Gehirn
In der Fachzeitschrift Schizophrenia Bulletin wird ein anderes Einzelteil des Puzzles zur Sprache gebracht: „Die vorgelegten Beweise lassen vermuten, daß im Gehirn von Schizophrenen häufig abnormale Veränderungen vorliegen.“
Dr. Arnold Scheibel behauptet, daß im gesunden Gehirn, und zwar im sogenannten Ammonshorn, die Nervenzellen „ähnlich wie kleine Soldaten“ ausgerichtet sind. Im Gehirn einiger Schizophrener sind dagegen „die Nervenzellen und ihre Funktionen völlig durcheinander“. Das könnte nach seiner Meinung der Grund für die Halluzinationen und Wahnvorstellungen eines Schizophrenen sein. Bei anderen Schizophrenen sind Erweiterungen der Hirnkammern festgestellt worden. Die faszinierendste aller Entdeckungen ist, daß im Gehirn psychisch Kranker biochemische Defekte vorhanden sein können. (Siehe den folgenden Artikel.)
Bis heute ist allerdings noch keine Hirnanomalie und noch kein biochemischer Defekt gefunden worden, der generell bei Schizophrenen vorkommt. Daher glauben die Ärzte, es handle sich bei der Schizophrenie möglicherweise um „eine Vielzahl von Störungen mit vielen verschiedenen Ursachen“ (Schizophrenia: Is There an Answer? [Schizophrenie: Gibt es eine Lösung?]). Ein langsam wirkendes Virus, Vitaminmangel, Stoffwechselstörungen und Nahrungsmittelallergien sind nur einige Faktoren, die als Ursache der Schizophrenie diskutiert werden.
Obwohl die genaue Ursache und der Mechanismus der Krankheit für die medizinische Wissenschaft noch nicht erklärbar sind, sagt Dr. E. Fuller Torrey: „Die Schizophrenie ist eine Erkrankung des Gehirns; das weiß man jetzt mit Bestimmtheit. Sie ist wissenschaftlich und biologisch ebenso eine Realität, wie Diabetes, multiple Sklerose und Krebs wissenschaftliche und biologische Realitäten sind.“ Es gibt auch Anhaltspunkte dafür, daß Depressionen eine biologische Ursache haben.
Die Geisteskrankheiten sind nicht mehr von der Aura eines Geheimnisses umgeben; ihnen haftet kein Stigma mehr an. Die Möglichkeit, sie zu behandeln, ist in greifbare Nähe gerückt.
[Fußnoten]
a Siehe die Artikelserie „Man kann gegen Depressionen ankämpfen“ in der Erwachet!-Ausgabe vom 8. Dezember 1981.
b Die Häufigkeit der Schizophrenie ist in Schweden, Norwegen, im Westen Irlands, im Norden Jugoslawiens und in den meisten Entwicklungsländern erhöht.
[Bild auf Seite 5]
An einer psychischen Erkrankung können eine Reihe von Faktoren beteiligt sein
Genetische Faktoren?
Soziales Umfeld?
Hirnanomalien?
Biochemische Defekte?
Ernährung?