„Mein liebstes Motiv“
Von unserem Korrespondenten in Schweden
„ES IST Spätsommer in Nordschweden. Gerade geht die Sonne unter. Entspannt sitze ich in meinem Auto, das ich am Ende eines mit Bäumen bestandenen Weges in der Nähe eines Sumpfes geparkt habe. Träge geht mein Blick hinüber zu den Birken auf der anderen Seite des Sumpfes. Doch da! Ein großer Braunbär trabt vom Wald her schwerfällig auf mich zu.
Schnell schlüpfe ich aus dem Auto. Den Fotoapparat um den Hals gehängt, schleiche ich am Sumpf entlang, um in gute ‚Schußposition‘ zu kommen. Der Bär hält inne und schaut herüber. Ich werfe einen Blick zum Auto — für den Weg würde ich wohl zehn Sekunden brauchen. Der Bär hebt seinen mächtigen Kopf, schnüffelt, schüttelt seinen riesigen Körper und schnaubt. Mein Herz schlägt bis zum Hals.
Während er weiter auf mich zukommt, stehle ich mich langsam zum Auto zurück. Wieder hält er inne, und jetzt sieht er mich. Plötzlich — mit einem mächtigen Schnauben — stürzt er auf mich zu. Ich reiße meine Kamera hoch. Für den Bruchteil einer Sekunde schaut er mir durch den Sucher direkt ins Auge. Den Auslöser drücken und zum Auto zurückstürzen ist eins.
Was für ein Schnappschuß! Er war so gut gelungen, daß die schwedische Post ihn später als Vorlage für eine Briefmarke benutzte.“
So beschreibt der Naturfotograf Bertil Pettersson eine seiner Begegnungen mit Braunbären.
„Es ist mein liebstes Motiv“, sagt er und fügt hinzu: „In den dichten schwedischen Wäldern begegnet man diesem wunderschönen, ehrfurchteinflößenden Tier äußerst selten. Nur wenige Menschen haben hier je einen Bären zu Gesicht bekommen, und noch viel weniger konnten Meister Petz fotografieren.“
Ein vorsichtiger Geselle
„Die Vorstellung, ein Bär sei ein großer, begriffsstutziger lustiger Trottel, sollte man schnell vergessen“, erklärt Bertil. „Er ist wachsam und vorsichtig und kann einen Menschen im Wald leicht überlisten. Es kommt vor, daß er angreift, jedoch nicht in aufrechter Stellung, wie das in einigen Berichten gesagt wird. Er richtet sich von Zeit zu Zeit auf, um sich einen Überblick zu verschaffen. Bei Gefahr zieht er sich normalerweise zurück oder kauert sich ins Gebüsch, bis sie vorüber ist. Lange bevor du auch nur die leiseste Ahnung von seiner Anwesenheit hast, hat er dich wahrscheinlich schon mit seinem guten Gehör oder seinem ausgezeichneten Geruch wahrgenommen.“
„Was mache ich, wenn mir im Wald ein Bär begegnet?“ frage ich. „Vor allem keine Panik! Ein Bär greift selten an, außer er wird provoziert. Zieh dich langsam zurück. Doch knurrt er, dann beeile dich, denn das ist seine Art, dir zu verstehen zu geben, daß du unerwünscht bist.
Lasse im Wald nie einen Hund frei laufen. Er könnte einen Bären anbellen, ihn reizen und dann verängstigt zu dir laufen — mit dem Bären auf den Fersen. Den Rest kannst du dir selbst ausmalen.“
Ein echter „Schläfer“
„Wie verbringt dein Fotomodell den Winter?“
„In seiner Erdhöhle“, antwortet Bertil.
„Ach ja“, meine ich, „Winterschlaf.“ „Nein, er schläft einfach“, wird mir erklärt. „Du brauchst einen schlafenden Bären nur anzustoßen, um dich zu überzeugen, daß es kein Winterschlaf ist. Er wird wahrscheinlich genau wie ein Mensch aufwachen und sehr schnell aktiv werden. Schlafende Bären sind schon durch das Geräusch von Motorsägen aufgewacht und haben ihren Platz in höchster Eile verlassen.“
„Der Bär muß sich mit den Jahreszeiten gut auskennen“, werfe ich ein.
„Ja“, bestätigt Bertil, „wenn er sich gegen Ende Oktober vollgefressen hat, macht er seine Höhle zurecht und polstert sie mit Tannenzweigen und Moos aus. Vorsichtig und schlau, wie er ist, wartet er mit dem endgültigen Bezug der Höhle vorzugsweise auf einen Tag, an dem es schneit, so daß bald seine Spuren nicht mehr zu sehen sind. Mitte April kommt er wieder heraus. Dann schleppt er gewöhnlich sein Bett vor den Eingang und verbringt dort noch einige Zeit, bis er schließlich auf Frühlingswanderschaft geht.“
Bertil zeigt mir Bilder von zwei spielenden niedlichen Jungtieren und erklärt: „Bärenjungen werden gegen Ende Januar in der Höhle geboren. Bei der Geburt sind sie etwa so groß wie Ratten, doch sie wachsen schnell. Im Frühling, wenn sie die Höhle verlassen, sind sie schon groß genug, um herumzutollen, zu kämpfen und neben ihrer Mutter zu spielen.“
Goldige Jungbären sind keine Streicheltiere
„Jeder, der solche niedlichen weichen Bündel auf einer Lichtung sieht, möchte wohl am liebsten mitspielen und sie ‚knuddeln‘“, bemerke ich.
„Sei bloß vorsichtig!“ warnt mich Bertil. „Mutter Bär wird es nicht einmal zulassen, daß man sich auf Sichtweite der Jungen nähert. Daher ist es so ungemein schwer, Bilder von einer Mutter mit ihren Jungen zu machen. Über vier Jahre hinweg habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten erfolglos versucht, eine Bärenfamilie von meinem Versteck im Wald aus zu fotografieren. Doch dann, eines Tages im Mai, geschah bei Sonnenuntergang folgendes:
Ungefähr noch 60 Meter von meinem Sichtschutz entfernt, sehe ich plötzlich ein großes Bündel — nicht weit weg von dem Aas, das ich in der Mitte des Sumpfes ausgelegt habe. Ein Bär! Bald erscheinen am Rand des Sumpfes zwei halbwüchsige Bärenjungen vom letzten Jahr. Der Wind steht günstig; er weht mir entgegen. Mit meinen Kameras um den Hals krieche ich 20 Meter vorwärts zum Rand des Sumpfes und kauere mich hinter eine Kiefer — gerade einen Steinwurf von den Bären entfernt. Die Jungen gesellen sich zu ihrer Mutter und schauen ihr beim Verscharren des Kadavers zu. In der Zwischenzeit kann ich eine Reihe guter Fotos machen.
Bevor der Vorhang zu diesem Schauspiel fällt und die Sonne untergeht, sehe ich etwas, was bisher nur wenige Menschen je zu Gesicht bekommen haben: Nachdem die Mutter mit dem Verscharren fertig ist, schmiegen sich die Jungen bei ihr an, stupsen sie in die Seite und schreien eintönig. Mit einem Mal setzt sie sich hin und läßt ihre Jungen saugen. Nach einer Weile legt sie sich auf den Rücken, hebt den Kopf und betrachtet liebevoll ihre Jungen, während diese ihre Mahlzeit beenden. Zufrieden kuscheln sie sich zum Schlafen an die Mutter.
Langsam ziehe ich mich zurück, damit ich die idyllische Szene nicht störe. Es ist ein atemberaubendes Erlebnis, und mich überkommt ein Gefühl der Demut und Dankbarkeit gegenüber dem großzügigen Gott, der diese wunderbaren Tiere erschaffen hat.“
[Ganzseitiges Bild auf Seite 24]
[Bilder auf Seite 26]
Beim Schnuppern der Waldluft
Vorsicht! Mutter mit Jungen