Von den Jarawas lernen
Von unserem Korrespondenten in Indien
„SIE haben zu hohen Blutdruck und sind mit Ihren Nerven am Ende. Reisen Sie auf eine tropische Insel, und entspannen Sie sich!“ Für jemanden, der unter den Belastungen der modernen Zivilisation leidet, wäre das vielleicht genau der richtige Rat. Aber auch ohne gesundheitliche Gründe ist ein solcher Vorschlag verlockend. Warum nicht einmal allem entfliehen und die Inselkette der Andamanen besuchen, die Heimat der Jarawas?
Andamanen? Jarawas? Es braucht einem nicht peinlich zu sein, wenn man noch nie davon gehört hat, denn die Inseln gehören nicht zum Angebot des Welttourismus. Auf einer Landkarte findet man die Andamanen im Golf von Bengalen zwischen Indien und Myanmar (früher Birma). Dieser Archipel, der aus etwa 300 Inseln besteht, ist nun Teil der Republik Indien.
Ein unzivilisiertes Volk?
Die Inseln sind die Heimat von vier Negritostämmen — die Groß-Andamanesen, die Jarawas, die Sentinelesen und die Onges. Die Negritos, was „Negerlein“ bedeutet, werden für die Nachfahren einer alten, dunkelhäutigen Pygmäenrasse gehalten, die einst den Großteil Südostasiens und Ozeaniens bevölkerte. Wegen ihrer Isolation wurden sie als die echtesten Überbleibsel des „Steinzeitmenschen“ bezeichnet oder als „die am wenigsten zivilisierten Menschen der Welt“, wie Leutnant Colebrook von der britischen Armee, der die Inseln einst unterstanden, es ausdrückte.
Als die Briten 1858 dort eine Sträflingskolonie errichteten, ging die Zahl der Groß-Andamanesen in die Tausende. Bald richteten die Krankheiten der Fremden, wie z. B. Masern und Syphilis, sowie Opiumabhängigkeit und Alkoholismus die Eingeborenen zugrunde. Nun sind nur noch einige wenige von ihnen — alle vermischt mit fremdem Blut — auf der winzigen Strait-Insel übriggeblieben. Den Onges erging es ähnlich.
Jahrelang wehrten sich die Jarawas und die Sentinelesen gegen den Kontakt mit der Außenwelt und damit gegen die Ausbeutung. Ihre Feindseligkeit hielt sie isoliert, trug ihnen aber den Ruf ein, unzivilisierte und blutdürstige Kannibalen zu sein. Vor einigen Jahren, als Mitarbeiter des anthropologischen Amtes in Port Blair, der Hauptstadt der Andamanen, versuchten, mit einer Stammesgruppe von der Nord-Sentinel-Insel Kontakt aufzunehmen, hagelte es Pfeile; einer davon durchbohrte das Bein eines Fotografen.
Warum waren sie so feindselig? Der Brite M. V. Portman, der gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts die Inseln verwaltete, erklärte: „Bei unserer Ankunft waren die Jarawas uns gegenüber ruhig und friedlich und störten uns nie, bis wir dazu übergingen, sie ständig zu belästigen, indem wir die küstenbewohnenden Andamanesen gegen sie aufwiegelten. Nach einigen Jahren der Belästigung wurde das Leben der Jarawas sehr schwer, und als Vergeltung begannen sie, uns anzugreifen. Es ist unsere Schuld, daß die Jarawas feindselig wurden.“
Die Lebensweise der Jarawas
Die Jarawas sind Halbnomaden. Sie leben in Gruppen von etwa 30 Personen, und eine Reihe benachbarter Gruppen bilden einen Stamm. Jede Gruppe bewegt sich innerhalb festgesetzter Grenzen und dringt nicht in das Gebiet der anderen ein. Da die Jarawas in einer vegetationsreichen, tropischen Umgebung leben, treiben sie weder Ackerbau noch Viehzucht. Sie sind auf Pfeil und Bogen und Speer angewiesen; sie jagen und fischen.
Es gehört zu ihrer Lebensweise, daß Nahrung geteilt wird. Wenn jemand aus der Gruppe eine Schildkröte gefangen hat, essen alle Schildkröte. Hat einer ein Schwein erlegt, dann essen alle Schweinefleisch. In ihrem sozialen Gefüge gibt es keine Klassenunterschiede in bezug auf Haben oder Nichthaben. „Man könnte die Jarawas nie als arm bezeichnen“, sagte einer der Anthropologen. „Sie haben alles, was sie brauchen, in Hülle und Fülle.“
Ungewöhnlich an den Jarawas ist, daß sie zu den wenigen Völkern der Welt gehören, die kein Feuer machen können. Ihr Feuer erhalten sie durch Waldbrände, die sich bei den häufigen Gewittern durch Blitze entzünden. Sie bewahren das Feuer sorgfältig, lassen es brennen und nehmen es sogar mit, wenn sie weiterziehen.
Ein Fluch der modernen Zivilisation ist der Zusammenbruch der sittlichen Werte. „Unter den Jarawas gibt es keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr“, sagte der oben zitierte Anthropologe. „Ehebruch kommt sehr selten vor. Wer Ehebruch beginge, würde auf die starke Mißbilligung der anderen stoßen. Er käme sich so schlecht vor, daß er die Gemeinschaft eine Zeitlang verlassen würde.“ Haben die Menschen in unserer „zivilisierten“ Gesellschaft ein so ausgeprägtes Sittlichkeitsempfinden?
Die moderne Zivilisation ist gleichbedeutend mit hohem Blutdruck, Herzkrankheiten, Krebs und ähnlichen Leiden. Die Jarawas werden von solchen Krankheiten nicht geplagt. Obwohl sie kleinwüchsig sind — die Männer werden nicht über 1,50 Meter groß, und die Frauen sind noch kleiner —, hat man sie einmal als die „am vollkommensten geformten kleinen Menschen, die es gibt“, bezeichnet. In ihrer Umgebung werden sie selten krank.
Die Religion spielt zwar keine große Rolle im Leben der Jarawas, doch sie haben gewisse Rituale in Verbindung mit den Toten. Wenn jemand gestorben ist, wird die Leiche vergraben, und die Hütte des Verstorbenen bleibt verlassen. Nach einigen Monaten wird der Leichnam ausgegraben. Der Schädel oder öfter der Unterkiefer wird vom nächsten Verwandten getragen. Später tragen ihn die anderen Verwandten abwechselnd. Dieser Brauch gilt als Zeichen der Achtung vor dem Verstorbenen und hängt mit den Vorstellungen der Jarawas von den Toten zusammen. Sie glauben an eine Seele — einen Träger des Lebens —, die in einer anderen Welt weiterlebt. Auch glauben sie, daß die Seele weiterhin an den Lebenden interessiert sei, und tun daher nichts, was sie ärgern könnte.
Eine reiche Heimat
Die Jarawas leben in einer üppig ausgestatteten Umgebung. Zu den vielen schönen Pflanzen, die die Inseln schmücken, gehören die herrlichen Orchideen, von denen es manche nur auf diesen Inseln gibt. Wie der Botaniker Dr. N. P. Balakrishnan berichtete, brachten 1880 in England einige dieser Orchideenarten „wie seltene Diamanten ungeheure Geldbeträge“ ein.
Ein deutscher Wissenschaftler entdeckte auf der Sentinel-Insel vor einiger Zeit auf Kosten eines Fingers den Palmendieb, einen Krebs. Auf einer Ausstellung der staatlichen Fischereibehörde in Port Blair stand auf einer Schautafel folgendes über den Palmendieb: „Gefährlich für Kokospflanzungen. Klettert auf Kokospalmen. Pflückt reife Früchte. Bricht mit seinen kräftigen Scheren die Schale auf. Trinkt die Kokosmilch und frißt das Kokosfleisch.“ Andere bezweifeln jedoch, daß dieser Krebs tatsächlich all das tut. Man weiß zwar, daß er auf Bäume klettert, meint aber, er öffne und fresse nur beschädigte, auf dem Boden liegende Kokosnüsse.
Was die Zukunft bringt
Wird den Jarawas unter dem Einfluß der modernen Zivilisation das gleiche widerfahren wie den Groß-Andamanesen und den Onges? Wird es mit ihnen allmählich bergab gehen, und werden sie schließlich aussterben? Das bleibt abzuwarten. Aber bevor die Fremden kamen, haben sie sich jahrhundertelang ihrer von Gott geschenkten Heimat angenommen und das, was sie bot, auf selbstlose Weise genutzt. Sie haben ein einfaches, friedliches Leben geführt. Können wir von den Jarawas etwas lernen?
[Bild auf Seite 24]
Dieser Krebs, der auf Bäume klettert, frißt Kokosnüsse