Der fliegende Arzt — Lebensretter im Outback
Von unserem Korrespondenten in Australien
ES GESCHAH vor über 80 Jahren, Anfang des 20. Jahrhunderts. Jimmy, ein junger Viehzüchter, trieb gerade Vieh zusammen bei Hall’s Creek weit im Norden Westaustraliens. Plötzlich bockte sein Pferd. Jimmy fiel zu Boden und erlitt eine schlimme Verletzung.
In langsamer Fahrt mit einem Einspänner wurde der schwerverletzte junge Mann nach Hall’s Creek gebracht, wo der Postmeister gleichzeitig als „Buscharzt“ fungierte. Aber alles, worauf er zurückgreifen konnte, war eine Reihe von Erste-Hilfe-Vorträgen, die er Jahre zuvor besucht hatte, ehe er von Perth weggezogen war. Der nächste richtig ausgebildete Arzt war Hunderte von Kilometern entfernt.
Der Postmeister telegrafierte eine dringende Nachricht und erfuhr, daß der Arzt weggerufen worden war und womöglich erst mehrere Tage später zurückkehren werde. Verzweifelt nahm der Postmeister telegrafisch mit dem Arzt Verbindung auf, der ihn in Perth in Erster Hilfe unterwiesen hatte — in über 3 000 Kilometer Entfernung. Über die Telegrafenleitung gab der Arzt schrittweise Instruktionen. Voller Angst nahm der Postmeister eine primitive Operation an dem Viehzüchter vor, wobei er ein Rasiermesser und ein anderes scharfes Messer benutzte.
Der Arzt machte sich unverzüglich auf die lange Reise von Perth nach Hall’s Creek. Er brauchte zwölfeinhalb Tage, um den abgelegenen Ort zu erreichen. Zuerst reiste er mit einem Schiff, das Vieh transportierte, die westaustralische Küste hinauf, dann mit einem Auto über holprige Wege und schließlich mit einem Einspänner. Der Arzt schleppte sich erschöpft in das Postamt. Seine ersten Worte waren: „Wie geht es dem Patienten?“
„Er ist gestern gestorben“, sagte der Postmeister traurig.
Solche tragischen Vorfälle veranlaßten viele besorgte Menschen, sich mit der größten Schwierigkeit im australischen Hinterland, dem Outback, auseinanderzusetzen — die Entfernungen. Wie könnten Personen, die dringend ärztliche Hilfe brauchten, schnell erreicht werden?
Die Entfernungen überwinden
Zur Zeit der Jahrhundertwende waren die Härten, denen die Bewohner des isolierten Outback ausgesetzt waren, schockierend. Für eine Fläche von 1 800 000 Quadratkilometern — etwa dreimal so groß wie Frankreich — gab es nur zwei Ärzte. Doch man begann sich die Zeit auszumalen, in der sich ein medizinisches Netzwerk über den gesamten Outback erstrecken würde. Wie sollte das möglich sein? Durch eine Kombination von Flugzeugen, Funk und ärztlicher Hilfe. Ein Mann sagte treffend: „Die Alternativen sind Flugzeug oder Grab.“
Damals war die Luftfahrt noch unerprobt und von zweifelhafter Sicherheit, und das Funkwesen steckte in den Kinderschuhen. Im Laufe der Jahre wurde das Fliegen jedoch realistischer, und das Funken machte rasche Fortschritte. Aber es gab noch eine weitere Hürde zu überwinden: Woher die Energie nehmen, um im Outback eine Funkverbindung herzustellen?
Das geniale Pedalfunkgerät
Ende der 20er Jahre kam einem jungen Funktechniker der Gedanke, mit Hilfe einer Person, die in Fahrradpedale tritt, einen Generator anzutreiben. Der Generator brauchte keine Batterien, wurde mit zumutbarem Kostenaufwand hergestellt und ermöglichte Funkverbindungen über eine Entfernung von fast 500 Kilometern. Das Pedalfunkgerät wurde im Outback viele Jahre lang in großem Maße eingesetzt.
Zunächst konnten keine gesprochenen Nachrichten gesendet oder empfangen werden. Es mußten Morsezeichen — die aus Punkten und Strichen bestehen — benutzt werden. Die Schwierigkeit, Nachrichten zu senden, falls man mit den Morsezeichen nicht vertraut war, wurde durch die geniale Erfindung einer speziellen Tastatur überwunden. Diese glich einer Schreibmaschine und war mit dem Funkgerät verbunden. „Busch“-Maschineschreiber konnten Nachrichten mit nur einem Finger tippen. Wenn man den Buchstaben „A“ anschlug, wurde das Morsezeichen „kurz-lang“ gefunkt usw. In späteren Jahren wurde der Funksprechverkehr benutzt, so daß der Morsecode überflüssig wurde.
Schließlich ersetzte man das Pedalfunkgerät durch modernere Einrichtungen und führte die Einseitenbandmodulation ein. Eine Reihe von Basisstationen wurden mit dieser Ausrüstung modernisiert. Heute stehen über 2 600 Außenstellen über Tranceiver mit den Stationen regelmäßig in Verbindung.
Der fliegende Arzt wird Wirklichkeit
Im Mai 1928 kam der Aerial Medical Service (Medizinischer Flugdienst) in Gang. Das erste eingesetzte Flugzeug konnte einen Piloten, einen Arzt, entweder eine Krankenschwester oder einen sitzenden Patienten und eine Trage befördern. Der einmotorige De-Havilland-Doppeldecker DH-50A hatte eine Reisegeschwindigkeit von nur 130 Stundenkilometern, aber ein Anfang war gemacht, und das Flugzeug übertraf mit Sicherheit Pferd und Einspänner. 1941 wurde der Name auf Flying Doctor Service (Ärztlicher Flugdienst) abgeändert. Und 1955 lautete der offizielle Name dann Royal Flying Doctor Service.
Finanzielle Schwierigkeiten gab es von Anfang an, besonders während der Weltwirtschaftskrise in den frühen 30er Jahren. Mit der Zeit erhielt man jedoch regelmäßig staatliche Subventionen sowie Gelder durch Stiftungen und Aufrufe an die Öffentlichkeit. Bis heute ist der fliegende Arzt zum großen Teil auf Spenden von Firmen und Einzelpersonen angewiesen, denn von Patienten im Outback wird zwar erwartet, für den Besuch und die Behandlung etwas zu zahlen, aber die Beträge, die sie geben können, sind kaum mehr als eine symbolische Zahlung für die entstandenen Unkosten.
Einige anfängliche Gefahren
Die heutigen Flugzeuge und die modernen Einrichtungen haben das Fliegen wesentlich leichter und sicherer gemacht, doch zu Anfang setzte ein Pilot beim Landen an entlegenen Orten im Outback sein Leben aufs Spiel. Viele behelfsmäßige Landebahnen waren holprig und nicht lang genug für sichere Landungen und Starts. Oft mußte der Pilot im Tiefflug die Landebahn umkreisen, um Pferde, Känguruhs, Rinder, Schafe oder sogar Emus davonzujagen, bevor er aufsetzen konnte. Wenn eine Nachtlandung notwendig war, mußten einfache selbstgemachte Fackeln angezündet werden. Später, als es mehr Fahrzeuge gab, erhellte man die Landebahnen mit Scheinwerfern.
In jener Anfangszeit war die Navigation mitunter eine Herausforderung. Da es nur unzuverlässige oder gar keine Karten gab, mußte der Pilot häufig Orientierungshilfen von der Luft aus erkennen — vielleicht ein Gehölz, ein Grenzzaun, eine unbefestigte Straße, ein Wasserloch oder ein Fluß.
Nicht mehr als zwei Stunden entfernt
Im Laufe der Jahre hat der Ärztliche Flugdienst so weit zugenommen, daß es heute über den Outback Australiens verstreut 13 Basisstationen gibt sowie eine in Tasmanien. (Siehe Karte.) An jeder Station ist stets ein fliegender Arzt bereit, und an einigen größeren Stationen gibt es drei oder mehr. Es steht ständig ein Pilot zur Verfügung, und an manchen Stationen sind bis zu drei Piloten auf Abruf bereit. Gewöhnlich sind auch Krankenschwestern aus den Krankenhäusern in der Nähe der Stationen erreichbar.
Es gibt nun eine Flotte von 32 Flugzeugen, die im Jahr durchschnittlich 6 500 Flüge machen und über 9 000 Patienten ins Krankenhaus bringen. Außerdem nehmen etwa 90 000 Patienten den fliegenden Arzt in Anspruch und werden von ihm behandelt. Diese gründliche Versorgung des Outback bedeutet, daß der fliegende Arzt jeden Patienten in Australien innerhalb von zwei Stunden erreichen kann.
Sogar zahnärztliche Versorgung und Herzbehandlung
Heutzutage werden die Bewohner des spärlich besiedelten australischen Outback sogar regelmäßig zahnärztlich untersucht und behandelt. Dafür sind nicht die fliegenden Ärzte selbst zuständig, sondern Zahnärzte, die regelmäßig in Flugzeugen des fliegenden Arztes mitreisen. Jedes Jahr werden 5 000 bis 6 000 Patienten von diesen Zahnärzten behandelt.
Wie steht es mit Herzbehandlungen? In der Zeitschrift Australasian Post wird die interessante Geschichte einer älteren Frau in dem winzigen Ort Tibooburra (150 Einwohner) in Neusüdwales berichtet. Ihr Herzschlag wurde über Funk kontrolliert. Die nächste Station des fliegenden Arztes war in Broken Hill, 340 Kilometer entfernt. Als bei der Patientin anhaltende Schmerzen in der Brust auftraten, wurde sie an ein elektronisches Gerät angeschlossen, das elektrische Signale von ihrem Herzen zum Krankenhaus in Broken Hill sendete, so daß eine Behandlung verordnet werden konnte.
Ein einzigartiger Dienst
Was die Versorgung des Gebiets und die Verfügbarkeit betrifft, ist der australische fliegende Arzt einzigartig. In manchen anderen Ländern gibt es allerdings ähnliche Einrichtungen zur Versorgung der Bewohner spärlich besiedelter Gebiete. Kanada hat beispielsweise wirkungsvolle Luftambulanzen. Dazu gehört die Saskatchewan-Luftambulanz, die 1947 gegründet wurde. In Ostafrika gibt es seit 1961 ein britisches und amerikanisches Gemeinschaftsunternehmen.
Doch der australische fliegende Arzt ist einzigartig wegen der umfangreichen Versorgung von über zwei Dritteln der weiten Landfläche, die 7 770 000 Quadratkilometer umfaßt. Bisher gibt es nirgends in der Welt etwas Vergleichbares.
Es überrascht daher nicht, daß es in der amtlichen Broschüre des Royal Flying Doctor Service von Australien abschließend heißt: „Der fliegende Arzt bietet — ungeachtet des Glaubens, der Hautfarbe und der Rasse — einen einzigartigen humanitären Dienst, der bei seiner Einführung vor über 50 Jahren etwas völlig Neues war und auch heute noch ohnegleichen ist in der Welt.“
[Karte auf Seite 18]
Die 14 Basisstationen des fliegenden Arztes im dünnbesiedelten Outback Australiens und Tasmaniens (Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Mt. Isa
Charters Towers
Charleville
Broken Hill
Pt. Augusta
Ceduna
Kalgoorlie
Meekatharra
Carnarvon
Alice Springs
Pt. Hedland
Derby
Wyndham
Hobart
[Bild auf Seite 17]
Ein solches Flugzeug benutzte der fliegende Arzt in der Anfangszeit