Unser Immunsystem — Ein Wunder der Schöpfung
Wir können sie nicht sehen, aber sie sind da. Millionen von ihnen wimmeln um uns herum, hängen sich an uns, versessen darauf, in uns hineinzugelangen. Sie sehnen sich nach der feuchten Wärme und der Nahrung in unserem Innern. Und sind sie erst einmal dort, wächst ihre Zahl alarmierend. Ließe man sie gewähren, würden sie binnen kurzem in uns die Oberhand gewinnen. Die einzige Möglichkeit, diesen zerstörerischen Scharen zu begegnen, ist Krieg — ein Krieg in unserm Innern. Es muß ein sofortiger und totaler Krieg zwischen den krankheitserregenden Eindringlingen und dem Immunsystem unseres Körpers mit seinen zwei Billionen Verteidigern sein.a Gnade gibt es nicht. Unser Leben steht auf dem Spiel. Entweder sie oder wir. Normalerweise gewinnen wir. Aber nicht immer. Der Ausgang hängt davon ab, wie schnell und vollständig unser Immunsystem zum Kampf bereit ist.
DAS Immunsystem ist mit das Phantastischste und Komplexeste, was man in unserem auf erstaunliche und wunderbare Weise geschaffenen Körper entdeckt hat. Daher wird es passenderweise mit dem komplexesten aller Organe verglichen, dem menschlichen Gehirn. Der Immunologe William Paul von den amerikanischen Gesundheitsinstituten erklärt dazu: „Das Immunsystem hat die phänomenale Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten, zu lernen und sich zu erinnern, Informationen zu schaffen, zu speichern und zu gebrauchen.“ Ein wahrhaft großes Lob, doch berechtigt. Dr. Stephen Sherwin, Direktor der klinischen Forschung bei Genentech, Inc., sagte anerkennend: „Es ist ein unglaubliches System. Es erkennt Moleküle, die nie zuvor im Körper waren. Es kann unterscheiden, ob etwas in den Körper gehört oder nicht.“ Und wenn nicht, heißt es Krieg!
Woher weiß unser Immunsystem, was in den Körper gehört und was nicht? Auf der Oberfläche fast aller Zellen des Körpers sitzen spezielle Proteinmoleküle des Haupthistokompatibilitäts-Komplexes (MHC). Sie sind sozusagen der Ausweis der Zelle, der dem Immunsystem sagt, daß die Zelle ein Freund ist, ein Teil von uns, ausschließlich zu uns gehörend. So erkennt das Immunsystem unsere eigenen Zellen und läßt sie in Ruhe, während es jede Zelle angreift, die auf der Oberfläche andere Moleküle aufweist — und jede Zelle, die nicht zu uns gehört, weist mit Sicherheit an der Oberfläche andere Moleküle auf als unsere Zellen.
Somit identifiziert unser Immunsystem anhand der Oberflächenmoleküle jede Zelle entweder als „wir“ oder „sie“, als „selbst“ oder „fremd“. Wird eine Zelle als fremd erkannt, so löst das eine Reaktion des Immunsystems aus. „Der Gedanke, daß das Immunsystem ständig zwischen selbst und fremd unterscheiden muß, ist ein Grundstein der theoretischen Immunologie“, heißt es in dem Buch Immunology. In die Kategorie der Fremden gehören Krankheitserreger wie Viren, Parasiten, Pilze und Bakterien.
Die Haut — mehr als nur eine passive Hülle
Die Haut ist die erste Verteidigungslinie gegen die Eindringlinge. Sie ist nicht nur eine passive Schutzhülle, sondern beherbergt Zellen, die das Immunsystem vor eindringenden Mikroorganismen warnen. Auf der Haut leben Milliarden von friedlichen Bakterien — an manchen Stellen fast 3 Millionen pro Quadratzentimeter. Einige produzieren Fettsäuren, die schädliche Bakterien- und Pilzarten in ihrem Wachstum hemmen. Im Spektrum der Wissenschaft (August 1985) wird die Haut ein „aktiver Teil des Immunsystems“ genannt, der mit spezialisierten Zellen eine „aktive Rolle bei der Immunabwehr“ spielt.
Zu der Schutzhülle des Körpers zählen auch die Schleimhäute im Körperinnern. Sie sondern ein Sekret ab, das Mikroben fängt. Speichel, Nasenschleim und Tränen enthalten antimikrobielle Substanzen. Flimmerhärchen, Zilien genannt, schieben Schleim und unerwünschte Teilchen aus den unteren Atemwegen in den Schlund, von wo aus sie durch Niesen oder Husten hinausbefördert werden. Erreicht ein Eindringling den Magen, wird er entweder von den darin befindlichen Säuren getötet, von Verdauungsenzymen zerlegt oder von dem Schleim der Magen- und Darmschleimhäute abgefangen und anschließend mit anderen Abfallstoffen ausgeschieden.
Phagozyten und Lymphozyten — die schwere Artillerie
Doch das sind nur Scharmützel im Vergleich zu den Schlachten, die hin und her toben, sobald Fremdorganismen die äußere Verteidigung durchbrochen haben und in den Blutstrom und das Körpergewebe oder in Körperflüssigkeiten eingedrungen sind. Sie haben das Reich der schweren Artillerie des Immunsystems betreten — der zwei Billionen starken Armee der weißen Blutkörperchen. Sie werden im Knochenmark geboren — jede Sekunde etwa eine Million — und bilden dann nach der Reifung drei verschiedene Divisionen: Phagozyten und zwei Arten von Lymphozyten, nämlich T-Zellen (drei Hauptgruppen: Helfer-, Suppressor- und Killerzellen) und B-Zellen.
Nun verfügt das Immunsystem also über ein Billionenheer, doch jeder Soldat kann nur eine einzige Sorte von Eindringlingen bekämpfen. Während einer Krankheit können Millionen von Krankheitserregern erzeugt werden, von denen jeder die gleiche Art Antigen aufweist. Aber verschiedene Krankheiten oder auch nur verschiedene Variationen der gleichen Krankheit haben unterschiedliche Antigene. Damit die T- und B-Zellen die Eindringlinge angreifen können, müssen sie Rezeptoren haben, die sich an ihr spezielles Antigen anbinden können. Daher muß es bei den T- und B-Zellen sehr viele verschiedene Rezeptoren geben, Rezeptoren, die zu jeder nur denkbaren Krankheit passen. Doch jede einzelne T- oder B-Zelle hat nur Rezeptoren für ein spezielles Antigen.
Daniel E. Koshland jr., Redakteur der Zeitschrift Science, erklärt zu diesem Punkt: „Das Immunsystem ist dazu geschaffen, fremde Eindringlinge zu erkennen. Um dazu in der Lage zu sein, produziert es eine Anzahl verschiedener Arten immunologischer Rezeptoren, die in der Größenordnung von 1011 (100 000 000 000) liegt. Welche Form ein Eindringling auch immer haben mag, es gibt einen passenden Rezeptor, mit dem er erkannt und seine Vernichtung veranlaßt werden kann“ (Science, 15. Juni 1990, Seite 1273). Es gibt also für jedes Antigen, das in unseren Körper gelangt, Gruppen von T- und B-Zellen, die dazu passen — so wie ein Schlüssel ins Schloß paßt.
Man könnte das so veranschaulichen: Zwei Schlosser arbeiten völlig unabhängig voneinander. Der eine stellt Millionen von verschiedensten Schlössern her, aber keine Schlüssel. Der andere fertigt Millionen von Schlüsseln unterschiedlichster Form, aber keine Schlösser. Nun werden die Abermillionen Schlösser und Schlüssel in einen riesigen Behälter geschüttet, der gut durchgeschüttelt wird, und jeder Schlüssel findet ein passendes Schloß und steckt sich dort hinein. Unmöglich? Ein Wunder? Es hätte den Anschein.
Millionen von Krankheitserregern, vergleichbar mit den Schlössern und ihren Schlüssellöchern, gelangen in unseren Körper und zirkulieren im Blutstrom und im lymphatischen System. Und wie Millionen von Schlüsseln zirkulieren unsere Immunzellen mit ihren Rezeptoren ebenfalls dort und lagern sich an die passenden Antigene der Krankheitserreger an. Unmöglich? Ein Wunder? Es sieht so aus. Doch das Immunsystem leistet genau das.
Jede Art von Lymphozyten hat im Kampf gegen Infektionen ihre eigene Rolle zu spielen. Die Helfer-T-Zellen (eine der drei Hauptgruppen der T-Zellen) sind von besonderer Bedeutung. Sie koordinieren die verschiedenen Reaktionen des Immunsystems und legen die Strategie fest. Durch die Anwesenheit feindlicher Antigene alarmiert, sammeln die Helfer-T-Zellen mittels chemischer Signale (Proteine, die Lymphokine genannt werden) die Truppen des Immunsystems und vermehren ihre Truppenstärke um Millionen. Ausgerechnet die Helfer-T-Zellen sind es, die sich das Aidsvirus für den Angriff aussucht. Wenn sie erst einmal lahmgelegt sind, ist das Immunsystem praktisch hilflos, so daß der Infizierte allen Arten von Krankheiten ausgeliefert ist.
Betrachten wir nun die Rolle, die die Helfer-T-Zellen in Verbindung mit den Phagozyten, den Müllmännern des Körpers, spielen. Ihr Name bedeutet „Freßzelle“. Sie sind nicht wählerisch, sondern fressen alles, was ihnen verdächtig vorkommt, ob es nun fremde Mikroorganismen, tote Zellen oder andere Abfallstoffe sind. Sie wirken sowohl als Verteidigungsarmee gegen Krankheitskeime wie auch als Müllabfuhr, die den Abfall verschlingt. Sie fressen sogar die Verunreinigung von Zigarettenrauch, der die Lunge schwarz macht. Wenn jedoch über eine längere Zeit geraucht wird, zerstört der Rauch die Phagozyten schneller, als sie ersetzt werden können. Einige der Mahlzeiten dieser Freßzellen sind für sie allerdings unverdaulich, ja sogar tödlich, wie z. B. Quarzstaub und Asbestfasern.
Zu den Phagozyten gehören neutrophile Granulozyten und Makrophagen. Das Knochenmark gibt jeden Tag etwa hundert Milliarden neutrophile Granulozyten ab. Sie leben nur wenige Tage, doch während einer Infektion schnellt ihre Zahl auf das Fünffache. Jeder von ihnen kann vielleicht 25 Bakterien verschlingen und zerstören, bevor er stirbt. Doch in einem stetigen Strom wird für Nachschub gesorgt. Makrophagen hingegen zerstören vielleicht einhundert Eindringlinge, bevor sie selbst sterben. Sie sind größer, stärker und leben länger. Sie verfahren sowohl mit Eindringlingen wie auch mit Abfallteilchen auf die gleiche Weise: Sie fressen sie auf. Es wäre jedoch falsch, sich die Makrophagen nur als Abfallbehälter vorzustellen. Sie „können bis zu 50 verschiedene Arten von Enzymen und antibakteriellen Wirkstoffen herstellen“ und als Informationsträger nicht nur zwischen „den Zellen des Immunsystems, sondern auch zwischen hormonproduzierenden Zellen, Nervenzellen und sogar Gehirnzellen“ dienen.
Hilfe, ein Feind in unserer Mitte!
Wenn ein Makrophage einen feindlichen Mikroorganismus verschlingt, frißt er ihn nicht nur einfach auf. Wie praktisch alle Körperzellen trägt der Makrophage die MHC-Moleküle, die ihn als zu uns gehörend identifizieren. Doch wenn er einen Keim auffrißt, dehnt sich das MHC-Molekül aus und zeigt in einer Ausbuchtung seiner Oberfläche einen Teil des feindlichen Antigens. Dieses Stück des Antigens wirkt dann auf das Immunsystem wie eine rote Fahne und gibt Alarm: Ein fremder Organismus ist in unserm Innern auf freiem Fuß!
Mit dem Alarm ruft der Makrophage nach Verstärkung, nach mehr Makrophagen, Millionen von ihnen. Und hier kommen die Helfer-T-Zellen ins Spiel. Milliarden von ihnen zirkulieren in unserem Körper, doch der Makrophage muß eine spezielle Art rekrutieren. Er braucht solche, deren Rezeptor zu dem speziellen Antigen paßt, das er präsentiert.
Trifft eine Helfer-T-Zelle dieser Art ein und bindet sich an das feindliche Antigen, tauschen Makrophage und Helfer-T-Zelle chemische Signale aus. Diese hormonartigen Stoffe oder Lymphokine sind ganz besondere Proteine, die eine verblüffende Vielfalt von Funktionen in Verbindung mit der Steuerung und der Verstärkung der Immunantwort erfüllen. Jetzt fängt sowohl der Makrophage wie auch die Helfer-T-Zelle an, sich phänomenal zu vermehren. Das bedeutet mehr Makrophagen, die die Eindringlinge auffressen, und mehr von der richtigen Art Helfer-T-Zellen, die sich an die Antigene anbinden, die diese Makrophagen präsentieren. So schwellen die Reihen der Immunkräfte rasant an, und ganze Truppen der betreffenden Krankheitskeime werden überwältigt.
[Fußnote]
a Bei der Anzahl der weißen Blutkörperchen reichen die Schätzungen von ein bis zu zwei Billionen. Ihre Zahl variiert stark.
[Kasten auf Seite 4, 5]
Vorgefertigte Waffen gegen jeden denkbaren Eindringling
Das Immunsystem unterhält ein „Arsenal von vorgefertigten Waffen gegen jeden denkbaren Eindringling“. Diese Fülle an Waffen „wird, soviel man weiß, in einem komplexen genetischen Prozeß erzeugt, bei dem Genteile durcheinandergemischt und rekombiniert werden“. Der Bericht über eine kürzlich gemachte bedeutsame Entdeckung wirft Licht auf das Wie.
„Man glaubt, daß das neuentdeckte Gen eine wichtige Rolle bei diesem genetischen Rekombinationsprozeß spielt. Die Wissenschaftler haben das Gen RAG-1 (für rekombinationsaktivierendes Gen) genannt.“ Über diese Entdeckung berichtete die Zeitschrift Cell vom 22. Dezember 1989. Doch die Wissenschaftler vom Whitehead-Institut für biomedizinische Forschung in Cambridge (Massachusetts, Vereinigte Staaten), die das RAG-1 entdeckt haben, befürchteten, daß „das Rekombinationsgen zu wirkungsschwach und zu langsam ist, als daß man damit erklären könnte, wie der Körper so kontinuierlich solch eine verwirrende Vielfalt von Immunglobulinen produzieren kann. Um jeder möglichen Art der Invasion begegnen zu können, muß der Körper viele Millionen von Antikörpern und T-Zellen-Rezeptoren verfügbar halten, alle gerade unterschiedlich genug, daß zumindest einige selbst eine völlig neue Art von Pathogenen [Krankheitserreger] erkennen würden“ (The New York Times, 26. Juni 1990).
So begannen die gleichen Wissenschaftler, nach einem anderen Gen Ausschau zu halten, das diese Schwierigkeit beseitigen würde. Sechs Monate später meldete die Zeitschrift Science (22. Juni 1990) die Entdeckung eines solchen Gens. „Den Wissenschaftlern zufolge arbeitet das neue Gen, RAG-2, mit dem ersten Gen zusammen, um so Antikörper und Rezeptor-Proteine schneller zusammenzubauen. Als Team sollten die beiden Gene Teile des Immunsystems zwischen 1 000- und 1 000 000mal wirkungsvoller rekombinieren können, als es jedes einzelne Gen tun könnte.“ Gemeinschaftlich sorgen RAG-1 und RAG-2 für die benötigten Millionen von Antikörpern und T-Zellen-Rezeptoren.
Diese Forschung ist „ein erstklassiges Stück Wissenschaft“ genannt worden. Es handelt sich um eine wichtige Entdeckung, die vielleicht die Tür zu einem besseren Verständnis einiger genetisch bedingter Krankheiten öffnet, bei denen das Verteidigungssystem des Körpers versagt (The New York Times, 22. Dezember 1989).