Was sagt die Bibel?
Heißt die Bibel das Hantieren mit Schlangen gut?
DIE Gläubigen versammeln sich in kleinen Gruppen. Sie spielen auf elektrischen Gitarren und singen Gospels. Sie beten um Heilungen. Sie lauschen einfachen Predigten und geben ekstatische Laute von sich, die sie als „neue Zungen“ bezeichnen. Bei alldem unterscheiden sie sich nicht allzusehr von den verschiedensten pfingstlerischen oder charismatischen Gruppen der Christenheit. Doch dann beginnen sie, Gift zu trinken und mit Feuer und Schlangen zu hantieren.
Das Gift ist meist in Wasser gelöstes Strychnin. Das Feuer kann von einem mit Petroleum getränkten Lappen oder von einem Schweißbrenner stammen, und die Schlangen sind oft Klapperschlangen oder Mokassinschlangen, die in den nordamerikanischen Appalachen, wo diese Gruppen am häufigsten vorkommen, nicht schwer zu finden sind. Wenn sich die Gläubigen vom „Geist“ dazu aufgerufen fühlen, trinken sie das Gift und halten die Hände ins Feuer. Sie hantieren auch mit den Schlangen, hängen sie sich über Schultern und Arme, halten sie gegen den Körper und reichen sie von einem zum anderen. Warum?
„Ich hantiere mit Schlangen, weil das biblisch ist, eine Art Gebot“, sagt Dewey, der Vorsteher einer kleinen Gemeinde in Westvirginia.a Dewey behauptet, 106mal gebissen worden zu sein, und als Beweis kann er Narben vorzeigen. Gebietet die Bibel wirklich so etwas?
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“
„Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe“, sagt die Bibel in 1. Johannes 4:8 (Lutherbibel). Würde ein Gott der Liebe von seinen Anbetern verlangen, sich unnötig Schmerzen zuzufügen? „Ein Schlangenbiß tut weh“, erklärt Dewey. „Der Schmerz ist ungefähr hundertmal schlimmer als Zahnschmerzen ... Es brennt wie Feuer.“ Die meisten Schlangenbißopfer überleben zwar, aber es sind Dutzende von Todesfällen dokumentiert, darunter der Tod der Schwester Deweys im Jahre 1961.
Natürlich sind Christen stets bereit gewesen, für ihren Glauben zu sterben, doch starben sie meist durch die Hand anderer, weil sie sich weigerten, von biblischen Grundsätzen abzugehen. Als Satan Jesus Christus hingegen aufforderte, sein Leben unnötig aufs Spiel zu setzen und von der Zinne des Tempels in Jerusalem zu springen, „sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben: ‚Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen‘“ (Matthäus 4:7, Lu). Hieße es nicht, Gott zu versuchen oder ihn herauszufordern, wenn man mit Schlangen, Feuer oder Gift spielte? Zeugt eine solche Prüfung nicht von großem Mangel an Glauben, da man Gott gewissermaßen zwingen will, sich durch aufsehenerregende Taten gegenüber seinem Wort als wahr zu erweisen?
Was gebietet die Heilige Schrift?
Religiöse Gruppen, die mit Schlangen hantieren, behaupten, dies werde in Gottes Wort geboten, und sie führen Markus 16:17, 18 als Beweis an. In der Lutherbibel lauten die beiden Verse: „Die Zeichen aber, die folgen werden denen, die da glauben, sind diese: in meinem Namen werden sie böse Geister austreiben, in neuen Zungen reden, Schlangen mit den Händen hochheben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird’s ihnen nicht schaden; auf Kranke werden sie die Hände legen, so wird’s besser mit ihnen werden.“
Zunächst muß angemerkt werden, daß fast alle Bibelgelehrte diese Verse nicht für einen ursprünglichen Teil des Markusevangeliums halten. „Wegen ihrer zweifelhaften Echtheit ist es unweise, mit den Versen 9-20 (besonders 16-18) eine Lehre oder ein Erlebnis zu untermauern“, schrieb der namhafte Bibelkommentator Charles Ryrie.
Die Gläubigen, die mit Schlangen hantieren, sind allerdings oft wenig beeindruckt, wenn sie erfahren, was Bibelgelehrte über die Echtheit von Markus 16:9-20 denken. Die Verse stehen in der King-James-Bibel — der einzigen Bibel, der die meisten von ihnen vertrauen —, und das ist für sie ausschlaggebend.
Doch selbst wenn die Verse echt wären, gebieten sie nicht das Hantieren mit Schlangen oder das Trinken von Gift, und zudem sagen sie nichts von Feuer. Sie sind nicht als Erfordernis für die Anbetung Gottes zu verstehen. Übrigens kam der Apostel Paulus auf der Insel Malta (Melite, in älteren Ausgaben der Lutherbibel) tatsächlich mit einer Schlange in Berührung, aber nur zufällig, da sie sich in einem Bündel Reisig befand, das er auf ein Feuer legte. Paulus wurde zwar gebissen und von Gott vor Schaden bewahrt, doch er gab die Schlange nicht anderen. Vielmehr „schlenkerte [er] das Tier ins Feuer“. Statt einen brennenden Schmerz zu verspüren, wie das heute bei Personen der Fall ist, die mit Schlangen hantieren, „widerfuhr ihm nichts Übles“ (Apostelgeschichte 28:3-6, Lu).
Eine Prüfung des Glaubens?
Gemäß der Encyclopaedia of American Religions ist das Hantieren mit Schlangen ein relativ neues Phänomen. In dem Werk heißt es: „Im Jahre 1919 gelangte der junge George Went Hensley aus dem ländlichen Grasshopper Valley (Tennessee) zu der Überzeugung, die Bezugnahme auf Schlangen und Gift in Markus 16:17, 18 sei ein Gebot. Er fing eine Klapperschlange, und ein paar Tage später holte er sie im nahe gelegenen Sale Creek mitten im Gottesdienst hervor und gab sie den Anwesenden, um deren Glauben zu prüfen.“ Es gibt jedoch keinerlei Hinweis, weder einen biblischen noch einen geschichtlichen, daß die ersten Christen eine solche Prüfung des Glaubens verlangten.
Man bedenke auch folgendes: Paulus wurde von Gott gebraucht, um Tote aufzuerwecken; dennoch ergriff er vernünftige Vorsichtsmaßnahmen zur Erhaltung seiner eigenen Gesundheit und der seiner Gefährten (1. Timotheus 5:23; 2. Timotheus 4:13). Paulus legte es nicht darauf an, Gelegenheiten herbeizuführen, um Menschen auferwecken zu können.
Christen werden nicht aufgefordert, ihren Körper mit Schmerzen zu martern oder Schlangenbißnarben vorzuweisen, sondern sie sollen ihren Leib darbieten „als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst“ (Römer 12:1, Lu). Statt Christen zu gebieten, ihren Glauben durch leichtsinnige Taten zu prüfen, gibt der Apostel ihnen den vernünftigen Rat: „Erforscht euch selbst, ob ihr im Glauben steht; prüft euch selbst“ (2. Korinther 13:5, Lu). Wir sollten unseren Glauben anhand des Wortes Gottes prüfen. Eine ehrliche Selbstprüfung, bei der man seine Glaubensansichten mit der Bibel vergleicht, hilft einem festzustellen, ob der eigene Glaube der überaus wichtigen Prüfung standhält, bei der es um Gottes Billigung geht.
[Fußnote]
a Die Zeitschrift People vom 1. Mai 1989.