Die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts
VON UNSEREM KORRESPONDENTEN IN GROSSBRITANNIEN
„DAS erste wissenschaftliche Mammutprojekt der Biologie“, das sechste der „sieben modernen Weltwunder“ — so hat man das Genomprojekt, ein internationales Unterfangen zur Entschlüsselung unseres Erbguts, bezeichnet. Was ist überhaupt das menschliche Genom? Es ist die Summe der Erbanlagen eines Menschen, die jeweils zur Hälfte auf seinen Vater und auf seine Mutter zurückgehen, ihn aber zu etwas Einzigartigem machen.
Die Genetiker Sir Walter Bodmer und Robin McKie sprechen in Verbindung mit dem Genomprojekt von dem „Buch vom Menschen“. Darin zu lesen ist allerdings keine leichte Aufgabe. „Auf eine bedeutendere Serie von Lehrbüchern wird man kaum jemals stoßen“, behauptet James Watson, einer der Wissenschaftler, die den Aufbau des in den Mittelpunkt gerückten DNS-Moleküls entdeckt haben. „Wenn die in unseren DNS-Molekülen verschlüsselten genetischen Botschaften erst einmal gedeutet sind“, sagt er, „werden alle unsere Fragen zum chemischen Unterbau der menschlichen Existenz beantwortet.“
Wie bei jedem großen und kostenaufwendigen Forschungsprojekt, so gibt es auch bei der Entschlüsselung des Genoms Befürworter und Skeptiker. „Das Genomprojekt könnte auf das Eindringen in den letzten Winkel unserer Privatsphäre hinauslaufen“, gibt Wissenschaftsautor Joel Davis zu bedenken, „oder aber es erweist sich als weites Tor, das zu Regeneration, Gesundheit und Heilung führt.“ Was auch immer damit erreicht wird, das Projekt „wird gravierende Veränderungen auf dem Gebiet der Genetik nach sich ziehen“ und „möglicherweise das Wesen des Homo sapiens völlig umgestalten“, so glaubt er. 1989 äußerte sich George Cahill, stellvertretender Direktor des Howard-Hughes-Instituts für Medizin, optimistisch. „Wir werden dadurch alles erfahren“, meinte er. „Ob Evolution oder Krankheiten — bei allem wird man auf das zurückgreifen, was auf diesem faszinierenden Band, DNS genannt, aufgezeichnet ist.“
Eine gigantische Aufgabe
Im Jahr 1988 bildete eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern eine Organisation zur Erforschung des menschlichen Genoms, genannt HUGO (Human Genome Organization), um die Arbeit von Genomforschern in den am Projekt beteiligten Ländern zu koordinieren. Bei einem Budget von rund 3,5 Milliarden Dollar führt HUGO die Forschungsergebnisse einer Datenbank zu. Obwohl Computer derzeit täglich Tausende von Bausteinen des Genoms entziffern, ist es derart komplex, daß man damit rechnet, die Dechiffrierung erst irgendwann im 21. Jahrhundert abgeschlossen zu haben. Würde man das Genom in Buchform veröffentlichen, so die Zeitschrift Scientific American, dann benötigte man zum Durchlesen „ein Drittel seines Lebens“.
Nach einigem Hin und Her entschied man sich für folgende Strategie: Erstes Ziel ist die Kartierung des Genoms, um die 100 000 Gene lokalisieren zu können. Als nächstes will man durch einen Prozeß, der als Sequenzierung des Genoms bezeichnet wird, die Reihenfolge der Bausteine bestimmen, aus denen die einzelnen Gene bestehen. Das letzte Ziel ist die Sequenzierung der übrigen 95 bis 98 Prozent der menschlichen Erbsubstanz.
Wird damit alles, was es über das menschliche Leben zu wissen gibt, offen daliegen? Enthält das Genom die bedeutendste „Serie von Lehrbüchern“, auf die man je gestoßen ist? Wird das Genomprojekt die Heilung aller menschlichen Erkrankungen möglich machen? In den anschließenden Artikeln werden diese Fragen untersucht.