Die verantwortungsvolle Aufgabe der Pflege
„ZUWEILEN habe ich mir gewünscht, ich könnte dem Ganzen entfliehen. Aber er brauchte mich mehr denn je. Ich fühlte mich zeitweise sehr allein“ (Jeanny; sie pflegte 18 Monate lang ihren 29jährigen Mann, bis er an einem Gehirntumor starb).a
„Mitunter ärgerte ich mich über Mutti, und dann mochte ich mich selbst nicht mehr leiden. Ich fühlte mich wie eine Versagerin, wenn ich mit der Situation nicht richtig zurechtkam“ (Rose, 59 Jahre; sie pflegte ihre 90jährige gebrechliche Mutter, die bettlägerig war).
Die Nachricht von einer unheilbaren oder chronischen Krankheit kann Angehörige und Freunde des Kranken völlig niederschmettern. „Wenn sie von der Diagnose erfahren, haben alle betroffenen Familien das Empfinden, allein dazustehen. Möglicherweise kennen sie keine Familie, die das gleiche Problem hatte“, schreibt Jeanne Munn Bracken in ihrem Buch Children With Cancer. Oftmals sind die Betreffenden auch „wie betäubt und fassungslos“ so wie Elsa, als sie erfuhr, daß Betty, eine gute Freundin von ihr, mit 36 Jahren an Krebs erkrankt war. Sue „schlug es regelrecht auf den Magen“ und ihr war völlig elend, als ihr schließlich klar wurde, daß ihr kranker Vater an Krebs sterben würde.
Verwandte und Freunde sehen sich unter Umständen urplötzlich mit der Rolle des Pflegenden konfrontiert, der für die physischen und emotionellen Bedürfnisse eines Kranken sorgen muß. Sie müssen vielleicht nahrhafte Mahlzeiten zubereiten, darauf achten, daß der Kranke seine Medizin einnimmt, dafür sorgen, daß er zum Arzt kommt, daß die Besucher des Patienten unterhalten werden, daß für den Patienten Briefe geschrieben werden und vieles mehr. Und das alles muß oftmals in einem ohnehin vollen Zeitplan untergebracht werden.
Verschlechtert sich der Zustand des Patienten, verlangt einem die Pflege noch mehr ab. Was schließt das gegebenenfalls mit ein? „Alles!“ erwidert Elsa, die ihre bettlägerige Freundin Betty betreute. „Sie mußte gewaschen und gefüttert werden und benötigte Hilfe, wenn sie sich übergeben mußte oder wenn ihr Urinbeutel geleert werden mußte.“ Kathy hatte neben ihrer Ganztagsarbeit für ihre kränkliche Mutter zu sorgen. Sue, von der zuvor die Rede war, erzählt, sie habe bei ihrem Vater „alle halbe Stunde die Temperatur gemessen und diese aufgeschrieben, ihn abgerieben, wenn die Temperatur gestiegen war, und alle paar Stunden seine Kleidung gewechselt und sein Bett frisch bezogen“.
Die Qualität der Pflege hängt größtenteils vom Wohlbefinden des Pflegenden ab. Doch die Gefühle und die Bedürfnisse der Menschen, die Kranke umsorgen, werden nicht selten übersehen. Wenn die Pflege für die Betreuer nur Rückenschmerzen und verspannte Schultern zur Folge hätte, wäre das schon schwer genug. Aber wie die meisten Pflegenden bestätigen werden, ist die emotionelle Belastung besonders groß.
„Es war mir furchtbar peinlich“
„In Studien wird wiederholt beschrieben, wie belastend das unberechenbare, peinliche Verhalten ... [eines Patienten] und dessen Zornausbrüche sind“, hieß es in der Publikation The Journals of Gerontology. Gillian zum Beispiel erzählt, daß eine Freundin sie bei einer christlichen Zusammenkunft einmal fragte, ob sie mit Gillians betagter Mutter sprechen könne. „Mutter schaute nur ausdruckslos vor sich hin und reagierte nicht“, erinnert sich Gillian traurig. „Es war mir furchtbar peinlich, und mir kamen die Tränen.“
„Das ist eines der Dinge, mit denen man am schwersten zurechtkommt“, meint Joan, deren Mann an Demenz leidet. „Seit er krank ist, haben seine Umgangsformen nachgelassen“, erklärt sie. „Wenn wir mit anderen in einem Restaurant sind, geht er manchmal zu den Nebentischen, probiert die Marmelade und steckt den gebrauchten Löffel dann wieder in das Marmeladentöpfchen. Besuchen wir Nachbarn, kann es passieren, daß er auf den Gartenweg spuckt. Ich kann mich nur schwer von dem Gedanken lösen, daß andere über seine Angewohnheiten reden und ihn für entsetzlich ungehobelt halten. Deswegen ziehe ich mich oft in mein Schneckenhaus zurück.“
„Ich befürchtete, daß er wegen einer Unachtsamkeit unsererseits ...“
Die Pflege eines schwerkranken geliebten Menschen kann mit großen Ängsten einhergehen. Der Pflegende hat vielleicht Angst davor, wie es sein wird, wenn die Krankheit fortschreitet oder wenn der geliebte Mensch stirbt. Eventuell befürchtet er, nicht stark genug oder nicht imstande zu sein, den Bedürfnissen des Patienten gerecht zu werden.
Elsa erzählt, welche Angst sie bedrückte: „Ich hatte große Bange, Betty weh zu tun und ihre Qualen dadurch noch zu verschlimmern oder etwas zu tun, was ihr Leben verkürzen könnte.“
Manchmal übertragen sich die Ängste des Patienten auf den Pflegenden. „Mein Vater hatte große Angst davor zu ersticken und geriet zuweilen in Panik“, verrät Sue. „Ich befürchtete, daß er wegen einer Unachtsamkeit unsererseits ersticken könnte und seine schlimmste Befürchtung damit wahr würde.“
„Vielleicht trauert man der Person nach, die der Kranke früher war“
„Trauer ist ein normaler Prozeß bei Menschen, die sich mit der langwierigen Krankheit eines geliebten Angehörigen auseinandersetzen müssen“, heißt es in der Veröffentlichung Caring for the Person With Dementia. „Je mehr die Krankheit fortschreitet, desto mehr verliert man einen Gefährten und eine Beziehung, die einem wichtig war. Vielleicht trauert man der Person nach, die der Kranke früher war.“
Jennifer beschreibt, wie sich der stetige Verfall ihrer kranken Mutter auf die Familie auswirkte: „Es schmerzte uns. Wir vermißten die angeregten Gespräche mit ihr. Wir waren sehr bedrückt.“ Gillian erklärt: „Ich wollte nicht, daß Mutter stirbt, und ich wollte nicht, daß sie leiden muß. Ich mußte immerzu weinen.“
„Ich [fühlte] mich zurückgestoßen und war verärgert“
Der Pflegende fragt sich möglicherweise: „Warum mußte es mich treffen? Wieso helfen andere nicht mit? Sehen sie nicht, daß ich mich schwertue? Kann der Kranke nicht ein wenig kooperativer sein?“ Ab und an ist der Pflegende womöglich verärgert, weil es den Anschein hat, daß sowohl der Patient als auch Verwandte immer mehr von ihm fordern und zu hohe Anforderungen stellen. Rose, von der eingangs die Rede war, erklärt: „Noch häufiger ärgerte ich mich über mich selbst, wenn auch nur innerlich. Aber Mutti sagte, man sehe es mir an.“
Vielfach bekommt der Pflegende die Frustrationen und die Wut des Kranken mit voller Wucht ab. In dem Buch Living With Cancer erklärt Dr. Ernest Rosenbaum, daß manche Patienten „bisweilen ihren Zorn oder ihre Depressionen an demjenigen auslassen, der um sie herum ist ... Dieser Zorn offenbart sich gewöhnlich als Verärgerung über Kleinigkeiten, die dem Patienten unter normalen Umständen überhaupt nichts ausmachen würden.“ So etwas zerrt verständlicherweise an den bereits angeschlagenen Nerven der Angehörigen oder Freunde, die den Kranken nach bestem Vermögen betreuen.
Maria zum Beispiel hat ihre todkranke Freundin wirklich auf lobenswerte Weise gepflegt. Dennoch war ihre Freundin hin und wieder überempfindlich und zog voreilige Schlüsse. „Liebe Freunde waren von ihrer Bissigkeit und Unhöflichkeit oft peinlich berührt“, erzählt Maria. Was empfand Maria dabei? „In dem Moment scheint man den Kranken zu ‚verstehen‘. Doch wenn ich später darüber nachdachte, fühlte ich mich zurückgestoßen und war verärgert und verunsichert; danach war ich nicht gerade gewillt, ihr die Liebe zu geben, die sie brauchte.“
In einer Studie, die in der Publikation The Journals of Gerontology veröffentlicht wurde, kam man zu dem Schluß: „Im Verlauf der Pflege kann sich enorm viel Ärger aufstauen ... [und] bisweilen zu tatsächlichen oder gedachten Gewalthandlungen führen.“ Wie Forscher herausfanden, befürchtete fast jeder fünfte Pflegende, gewalttätig zu werden. Und mindestens jeder zwanzigste ist tatsächlich gewalttätig gegen den Patienten geworden.
„Ich fühle mich schuldig“
Viele Pflegende werden von Schuldgefühlen geplagt, die mitunter eine direkte Folge ihres Ärgers sind, das heißt, sie fühlen sich schuldig, weil sie sich gelegentlich ärgern. Diese Emotionen können sie derart aufreiben, daß sie meinen, sie könnten so nicht mehr weitermachen.
In manchen Fällen bleibt keine andere Wahl, als den Patienten in ein Pflegeheim oder ein Krankenhaus zu bringen. Diese Entscheidung kann für den Pflegenden zu einem wahren Trauma werden und ihm emotionell sehr zusetzen. „Als ich letztendlich gezwungen war, Mutter in ein Heim zu bringen, war mir, als ob ich sie verraten oder abschieben würde“, sagt Jeanne.
Ganz gleich, ob sich der Patient im Krankenhaus befindet oder nicht, seine Angehörigen fühlen sich möglicherweise schuldig, weil sie meinen, nicht genug für ihn zu tun. Elsa sagt: „Ich hatte oft ein schlechtes Gewissen, weil ich sowenig Zeit hatte. Manchmal wollte mich meine Freundin einfach nicht gehen lassen.“ Außerdem macht man sich vielleicht Sorgen, weil man andere familiäre Verpflichtungen vernachlässigt, vor allem wenn man als Pflegender viel Zeit im Krankenhaus verbringt oder länger arbeiten muß, um die sich stapelnden Rechnungen zu bezahlen. „Ich muß mitarbeiten, damit wir die Rechnungen bezahlen können“, klagt eine Mutter, „aber ich fühle mich schuldig, weil ich nicht zu Hause bei meinen Kindern sein kann.“
Pflegende benötigen also dringend Beistand, besonders wenn der Patient gestorben ist. „Meine schwierigste Aufgabe ... besteht darin, dem Pflegenden [nach dem Tod des Patienten] seine vielfach unausgesprochenen Schuldgefühle zu nehmen“, erklärt Dr. Fredrick Sherman aus Huntington (New York).
Werden solche Gefühle nicht ausgesprochen, kann das sowohl dem Pflegenden als auch dem Kranken schaden. Was können Pflegende daher tun, um solchen Gefühlen Herr zu werden? Und was können andere — Angehörige und Freunde — tun, um ihnen zu helfen?
[Fußnote]
a Einige Namen wurden geändert.
[Kasten auf Seite 5]
Ihren Einsatz nicht als selbstverständlich voraussetzen
„WIR wissen, daß 80 Prozent der häuslichen Pflege älterer Personen von Frauen verrichtet werden“, sagt Myrna I. Lewis, Assistenzprofessorin der Abteilung Sozialhygiene an der Medizinischen Fakultät Mount Sinai (New York).
Gemäß einer in der Publikation The Journals of Gerontologyb veröffentlichten Studie erklärten 61 Prozent der pflegenden Frauen, sie würden von Verwandten oder Freunden keinerlei Hilfe erhalten. Und über die Hälfte (57,6 Prozent) der Frauen sagten, ihr Mann würde ihnen nicht genug Rückhalt geben. Jeanne Munn Bracken weist in ihrem Buch Children With Cancer darauf hin, daß oftmals ein großer Teil der Pflegetätigkeit von der Mutter geleistet wird, während „sich der Vater eher in seine Arbeit zurückzieht“.
Ein beträchtlicher Teil der Pflegetätigkeit wird nach Angaben von Dr. Lewis allerdings auch von Männern ausgeführt. Eine relativ große Gruppe bilden beispielsweise die Männer, deren Frau an der Alzheimer-Krankheit leidet. Und sie sind mit Sicherheit nicht verschont von den Belastungen, die mit der Pflege eines geliebten kranken Menschen einhergehen. „Diese Männer sind möglicherweise sogar von allen Pflegenden am anfälligsten“, sagt Dr. Lewis weiter, „denn sie sind in der Regel älter als ihre Frau und unter Umständen selbst gesundheitlich nicht auf der Höhe. ... Die meisten haben außerdem keinerlei praktische Erfahrung im Pflegebereich.“
Angehörige müssen darauf achten, daß sie die Pflege nicht einer einzigen Person aufbürden, die die Aufgabe recht gut zu meistern scheint. „Oftmals übernimmt ein ganz bestimmtes Familienmitglied die Rolle des Pflegenden, und das mehrmals hintereinander“, heißt es in dem Buch Care for the Carer. „Ein hoher Anteil dieser Pflegekräfte sind Frauen, die selbst nicht mehr die Jüngsten sind. ... Außerdem denken die meisten, das Pflegen liege eher im Naturell der Frauen ..., doch Verwandte und Freunde sollten dies niemals als selbstverständlich voraussetzen.“
[Fußnote]
b Gerontologie wird definiert als „Fachgebiet, auf dem die Alterungsvorgänge im Menschen erforscht werden; Alternsforschung“.
[Bild auf Seite 6]
Pflegende benötigen Beistand, damit sie mit Schuldgefühlen und Ärger fertig werden