Ein Paradies ganz anderer Art
VON UNSEREM KORRESPONDENTEN IN KANADA
WENN man von den Hängen der Schlucht ins Tal hinunterschaut, steht man starr vor Staunen ob der atemberaubend schönen Landschaft: welliges Hügelland und steile Schluchten. Ein schier endloses Meer von Gräsern liegt vor einem. Eine Windbö rast darüber hinweg und trägt den starken Geruch des Salbeis mit sich — den Duft der Prärie.
Nicht zu glauben, daß man vor zweihundert Jahren hier noch tagelang unterwegs sein konnte, ohne jemals die riesigen Büffelherden aus den Augen zu verlieren, die die großen Prärien Kanadas verdunkelten und den Boden unter ihren Millionen von Hufen spürbar erzittern ließen. Sogar die berühmten Herdenwanderungen in Afrika können mit den Wanderungen der Büffel, die dieses riesige Grasmeer durchstreiften, nicht Schritt halten.
Als Anzeichen dafür, daß die Büffel jemals hier waren, sind nur noch die großen Steine verblieben, an denen sie sich rieben. Man kann die abgerundeten Ecken der Steine fühlen und die Furchen sehen, die von den Tausenden von Büffeln rund um die Steine gezogen wurden, während sie ihre juckende Haut an den Steinen rieben. Nicht nur der starke Westwind treibt einem die Tränen in die Augen, sondern auch ein ehrfürchtiges Staunen über die Wunder der Schöpfung, die einen umgeben und die Sinne betören. Wo sind wir hier? Wir besuchen ein Paradies ganz anderer Art.
Ein andersartiger Park
Willkommen im Grasslands-Nationalpark! Er befindet sich im Südwesten Saskatchewans (Kanada) und ist der einzige Park in Nordamerika, der die unberührte Prärie samt ihrer verschiedenen Gräser schützt. Der Park besteht eigentlich aus einem östlichen und einem westlichen Abschnitt, die 22,5 Kilometer voneinander entfernt liegen. Insgesamt umfaßt der Park 900 Quadratkilometer.
Das Gelände ist zerklüftet und voll interessanter Hindernisse. Auf Entdeckungsreise geht man am besten zu Fuß oder hoch zu Pferd. Wer abenteuerlustig ist, kann die Nächte unter freiem Himmel verbringen, aber er sollte sich genügend Wasser und andere notwendige Vorräte mitnehmen. (Siehe Kasten „Den Park erkunden“.) Während des Ausflugs im Park wird man weder moderne Gebäude noch gepflasterte Straßen, noch Schotterwege, noch Starkstromleitungen, noch Müllhalden, noch Parkplätze sehen. Möglicherweise trifft man nicht einmal Menschen. Wirklich, ein Paradies ganz anderer Art! Sowie man seinen Fuß in den Park setzt, betritt man eine Welt einzigartiger Schönheit.
Die Great Plains Nordamerikas bilden eins der am radikalsten veränderten Ökosysteme der Welt. Vor weniger als zweihundert Jahren war diese Gegend ein hundertprozentig wildes, unberührtes Land. Heute sind in Kanada beispielsweise nur noch knapp 25 Prozent der Prärie mit ihren verschiedenen Grasarten unberührt. Die Idee, das Grasland der Prärie durch einen Park zu schützen, entstand in den 1830er Jahren. Über hundert Jahre später, 1957, begann die Natural History Society von Saskatchewan, einen Nationalpark einzurichten.
Doch erst 1988 wurde der Grasslands-Nationalpark durch ein Übereinkommen zwischen dem Staat und der Provinz gegründet. Der Park schützt zusammen mit etlichen anderen Parks in den kanadischen Prärien mittlerweile 22 Pflanzen-, Säugetier- und Vogelarten, die in Kanada auf der offiziellen Liste gefährdeter Arten stehen. Außerdem werden viele andere Arten erhalten, die zum Teil nirgendwo sonst in der Welt zu finden sind.
Im Grasslands-Nationalpark herrschen extreme Klimaschwankungen. Da er im Zentrum des Kontinents liegt, hat das gleichmäßige Klima der Ozeane dort keinerlei Einfluß. Deshalb können die Temperaturen im Winter minus 50 Grad Celsius erreichen und im Sommer ohne weiteres bei über 40 Grad Celsius liegen. Infolge der überaus geringen Niederschläge und eines ständigen Windes ist das Klima rauh.
Dennoch gibt es eine vielfältige Tierwelt, auch wenn das auf den ersten Blick nicht erkennbar ist. Doch Geduld und Ausdauer, besonders in der Morgen- oder der Abenddämmerung, werden belohnt, wenn man Rehe, Kojoten, Rotluchse, Eselhasen, Beifußhühner, Klapperschlangen, Kaninchenkäuze, Königsbussarde, Steinadler, Gabelböcke (die als die wahrscheinlich schnellsten großen Tiere Nordamerikas bezeichnet werden) oder die letzte verbliebene Kolonie von Kanadas Schwarzschwanz-Präriehunden vor die Kamera bekommt. Außerdem wird man viele Vögel und Insekten sowie Pflanzen sehen, die nur in dieser Gegend beheimatet sind.
Die abwechslungsreiche Geschichte der Gegend
Falls man sich zu einem Besuch dieses einzigartigen Parks entscheiden sollte, wäre es gut, einiges über die Gegend herauszufinden. Sie hat eine bewegte Geschichte. Beispielsweise existieren noch Markierungen von dem historischen North West Mounted Police Red Coat Trail (Nord-West-Pfad der rotberockten berittenen Polizei). Auf Grund von Gerüchten über einen Indianeraufstand sandte die kanadische Regierung 1874 einen Trupp von 300 berittenen Polizisten in den Westen, um Recht und Ordnung wiederherzustellen. Diese Maßnahme nahm vielen Menschen außerdem die Angst, daß sich die Vereinigten Staaten Kanadas Westen einverleiben würden. Da die Polizisten leuchtendrote Uniformröcke trugen und auf gestriegelten Pferden saßen, bot der Trupp ein so eindrucksvolles Bild, daß der Pfad bis auf den heutigen Tag als Red Coat Highway (Rotrockweg) bekannt ist.
Im Jahr 1878 wurde die Gegend dann interessanterweise die Heimat eines der am meisten gefürchteten indianischen Krieger Nordamerikas — des großen Sioux-Häuptlings Sitting Bull. Nach dem Sieg der Sioux über Custers Männer am Little Bighorn River flohen Tausende von amerikanischen Sioux in diesen Teil Kanadas, um sich vor der amerikanischen Kavallerie in Sicherheit zu bringen.
Es gibt rund 1 800 archäologisch bedeutsame Stätten im Park, die noch weiter zurückdatieren. Auf vielen Bergkämmen, Hügelkuppen und Spitzkuppen findet man große Steinblöcke, die kreisförmig angeordnet sind — sogenannte Tipiringe. Diese Steinblöcke hielten die Enden der aus Büffelhaut gespannten Tipis (Zelte) fest, damit sie nicht vom Wind fortgeweht wurden. Es gibt auch ein verzweigtes Netz von Wegen, auf denen die Prärie- und Plains-Indianer früher die Büffelherden entlangtrieben. Vor vielen Jahrhunderten bildete diese Gegend die reichen Jagdgründe der Gros Ventre, der Cree, der Assiniboin, der Blackfoot und der Sioux.
Aus noch früheren Zeiten stammen die Dinosaurierüberreste, die im Ostabschnitt des Parks inmitten der stark erodierten Lehmhügel von Killdeer Badlands gefunden wurden.
Ein wunderschönes Panorama
Falls die vielfältige und üppige Flora und Fauna oder die faszinierende Geschichte dieser Gegend nicht ausreicht, um jemanden in Staunen zu versetzen, wird die Schönheit und die enorme Weite des Landes das mit Sicherheit erreichen. Man hört das Zwitschern unzähliger Vogelarten, riecht den Duft von Salbei, spürt die heiße Sonne und den Wind auf der Haut. Der Genuß des Essens, das man auf einem Gaskocher zubereitet hat, wird noch gesteigert durch das wunderschöne Panorama, an dem sich das Auge labt. Außerdem hat man einen ungehinderten Rundblick bis zum Horizont, vor allem entlang dem Two Trees Interpretive Trail im Westabschnitt des Parks. Am weiten, klaren blauen Himmel zieht hin und wieder eine zarte weiße Wolke dahin, die wie ein schwebender Berg über einem hängt. Das spektakuläre Landschaftsbild vermittelt einem ein überwältigendes Gefühl der Freiheit — gleichzeitig kommt man sich sehr klein vor und ist von Ehrfurcht ergriffen.
In der Prärie kommt es nicht nur darauf an, was man sieht, sondern auch darauf, was man empfindet. Die Gefühle, die man mit der Prärie verbindet, lassen einen immer wieder in dieses Paradies ganz anderer Art zurückkehren. Was man dort erlebt, erfüllt einen mit Dankbarkeit. In Gedanken lobt man den großen Schöpfer, Jehova, der dies alles erschaffen hat. Bald kommt der lang ersehnte Tag, an dem die ganze Erde in ein Paradies umgestaltet wird und sie ihre natürliche Schönheit vollkommen entfalten kann.
[Kasten auf Seite 26]
Den Park erkunden
Nicht vergessen, ...
1. sich bei der Parkleitung registrieren zu lassen und sich vor Eintritt in den Park ein Informationspaket zu besorgen;
2. genügend Trinkwasser mitzunehmen (Trinkwasser ist nur im Informationszentrum des Parks erhältlich);
3. einen Sonnenhut und feste, bequeme Schuhe zu tragen, die zum Schutz gegen stachlige Kakteen bis zu den Fesseln reichen;
4. einen Stock mitzunehmen, mit dem man hohes Gras oder Gebüsch vor sich abklopft;
5. einen Fotoapparat und ein Fernglas mitzunehmen, sofern sie vorhanden sind. Die beste Zeit zur Beobachtung von Tieren ist in der Morgen- oder der Abenddämmerung.
WARNUNG: Man sollte vermeiden, blindlings irgendwohin zu fassen oder zu treten. Klapperschlangen können zubeißen, wenn sie in die Enge getrieben oder überrascht werden. Es ist nicht gestattet, die freilebenden Tiere in einem Nationalpark aufzuscheuchen oder zu jagen.
[Bildnachweis auf Seite 25]
All pictures: Parks Canada