Ärzte überdenken Einstellung zu transfusionsloser Chirurgie
JANET, eine Kanadierin, erklärte ihrem Sohn, warum sie an Aids erkrankt war. Bevor ihr Mann starb, hatte sie sich bei ihm angesteckt. Ihr Mann, ein Bluter, war wahrscheinlich durch ein verseuchtes Blutpräparat mit dem Virus infiziert worden. Katastrophen wie diese sind beileibe nicht der einzige Grund, der Ärzte veranlaßt hat, Bluttransfusionen als Behandlungsstandard neu zu überdenken. Eine Schlagzeile der New York Times in diesem Jahr lautete sogar: „‚Transfusionslose Chirurgie‘ gewinnt breitere Akzeptanz“.
Auf mehreren Ärztekongressen ist deutlich geworden, daß das Interesse an Operationsverfahren, bei denen auf Bluttransfusionen verzichtet wird, zugenommen hat. Zwei derartige Treffen fanden im vergangenen Jahr in den Vereinigten Staaten statt (Boston und Atlanta), eines in Kanada (Winnipeg) und eines in Lettland (Riga) als internationaler Kongreß für Osteuropa.
Warum kamen nun, nachdem man sich 50 Jahre lang auf Bluttransfusionen verlassen hatte, insgesamt über 1 400 Fachleute aus 12 Ländern zu diesen vier Kongressen, bei denen „transfusionslose Chirurgie“ als „zukunftsweisendes Konzept“ gepriesen wurde, wie eine Zeitung schlagzeilte? Was wurde auf diesen Kongressen in bezug auf neuartige Medikamente, Geräte und Techniken aufgezeigt, die sich darauf auswirken, welche Behandlungsmöglichkeiten uns allen offenstehen?
Warum die Suche nach Alternativen?
Ein Hauptgrund für die Suche nach Alternativen liegt darin, daß das Risiko einer Krankheitsübertragung durch Spenderblut nicht völlig ausgeschlossen werden kann. In der Torontoer Zeitung Globe and Mail vom 31. Januar 1998 wurde beispielsweise die „Tragödie durch verseuchtes Blut“ in Kanada in den 80er Jahren wie folgt kommentiert: „Hepatitis C ist eine potentiell schwächende Lebererkrankung, für die es keine Heilung gibt. ... Möglicherweise bis zu 60 000 Kanadier sind durch verseuchtes Blut mit dem Virus infiziert worden, und das bedeutet, daß bis zu 12 000 an den Folgen einer durch Blut übertragenen Hepatitis sterben könnten.“
Zwar ist diese Gefahr durch neue Testverfahren erheblich verringert worden; dennoch sagte Richter Horace Krever auf dem in Winnipeg abgehaltenen Kongreß: „Die Blutkonserven in Kanada waren nie absolut sicher, und sie können es nie sein. Blut zu verwenden birgt unweigerlich Risiken in sich.“ Und das Risiko einer Krankheitsübertragung oder einer schweren Unverträglichkeitsreaktion steigt mit jeder einzelnen zusätzlich verabreichten Blutkonserve.
In Riga zog Dr. Jean-Marc Debue von der Clinique des Maussins in Paris folgendes Fazit: „Wir Ärzte mußten unseren üblichen therapeutischen Ansatz neu überdenken. ... Bluttransfusionen haben vielen Patienten das Leben verlängert, aber anderen haben sie das Leben ruiniert, weil sie sich dadurch eine unheilbare Krankheit zuzogen.“
Neue Krankheitserreger sind den Verfahren, mit denen Blut auf Erreger untersucht wird, in der Regel immer einen Schritt voraus, so daß diese Testverfahren dagegen keinen Schutz bieten. Dr. Paul Gully aus Ottawa (Ontario, Kanada) führte beispielsweise aus: „Hepatitis G ist ein erst kürzlich beschriebenes RNA-Virus; es wurde bereits durch Transfusionen übertragen, doch wie groß das Risiko derzeit ist, weiß niemand.“
Über eine weitere Gefahr wurde in einer Sonderausgabe zum Thema Medizin des US-Nachrichtenmagazins Time wie folgt berichtet: „Transfusionen können das Immunsystem unterdrücken, wodurch der Patient anfälliger für Infektionen ist, der Heilungsprozeß verlangsamt wird und die Genesung insgesamt länger dauert.“
Auch die Kostenersparnis ist ein Faktor. Nach Angaben von Time kann in den Vereinigten Staaten eine Bluttransfusion 500 Dollar kosten. Mancherorts schwinden überdies die Blutvorräte, weil weniger Spender zur Verfügung stehen.
Zusätzlich werden durch Operationen ohne Bluttransfusionen Kosten eingespart, weil bei diesen Patienten niedrigere Infektionsraten zu verzeichnen sind und die Dauer des Krankenhausaufenthalts kürzer ist. Auf dem Kongreß in Winnipeg sagte Durhane Wong-Rieger vom kanadischen Bluterverband über transfusionslose Chirurgie: „Wir halten sie für unbedingt erforderlich. Sie ist kostenwirksam und würde mit Sicherheit die Gesundheit der Patienten verbessern.“
Ein immer größerer Kreis von Patienten wünscht bei einer Operation keine Bluttransfusion. Dr. David Rosencrantz von den Legacy Portland Hospitals (Oregon, USA) sagte, ursprünglich seien dort bei allen Patienten religiöse Gründe für die Bitte ausschlaggebend gewesen, mit medizinischen Alternativen zu Bluttransfusionen behandelt zu werden. Mittlerweile zögen jedoch mindestens 15 Prozent aller Patienten eine solche Behandlung vor, ohne dies mit ihrer religiösen Überzeugung zu begründen.
Unterschiedliche Ansichten
In einem wichtigen Punkt herrschte auf allen vier Kongressen Übereinstimmung: Eigenblut zu verwenden sei weit ungefährlicher, als Spenderblut zu verwenden. Aus diesem Grund empfehlen manche, vor einer Operation eine Eigenblutreserve anzulegen. Viele wiesen allerdings darauf hin, daß in Notfällen dafür keine Zeit bleibt. Außerdem haben Jehovas Zeugen religiöse Einwände dagegen, gelagertes Blut jeglicher Art zu verwenden.a
Dr. Bruce Leone von der Duke-Universität (Nordkarolina, USA) sagte auf dem kanadischen Kongreß, präoperative Eigenblutspenden seien teuer, mit hohem Arbeitsaufwand verbunden, sie erforderten beträchtliche Zeit vor der Operation und die häufigste Ursache transfusionsbedingter Erkrankungen, nämlich eine Verwechselung von Patient und/oder bereitgestellter Blutkonserve, könne dadurch nicht ausgeschaltet werden.
Viele Ärzte sprechen sich dafür aus, Medikamente und Techniken weiterzuentwickeln, die den Bedarf an Spenderblut drastisch verringern. Nach ihrem Dafürhalten sollten Bluttransfusionen nur in Notfällen eingesetzt werden. Andere Ärzte hingegen verzichten in der Praxis mittlerweile gänzlich auf Bluttransfusionen. Sie verweisen darauf, daß äußerst schwierige Operationen wie das Einsetzen künstlicher Hüftgelenke, komplizierte neurochirurgische Eingriffe oder Operationen am offenen Herzen bei Kleinkindern und Erwachsenen ohne Einsatz von Transfusionen durchgeführt wurden und sich die Patienten sehr schnell erholten.
Gegenwärtig gibt es weltweit mehr als 100 Krankenhäuser — davon über 70 in den Vereinigten Staaten —, die sich auf fremdblutfreie Behandlung spezialisiert haben. Und derzeit mehr als 88 000 Ärzte weltweit haben sich bereit erklärt, mit Patienten, die kein Blut wünschen, zusammenzuarbeiten.
Neue Techniken
Auf dem Kongreß in Atlanta räumte ein Redner nach dem anderen ein, der Anstoß dafür, eine bestimmte Technik zu entwickeln, sei die Behandlung von Zeugen Jehovas gewesen.b Viele äußerten sich ähnlich wie Dr. James Schick vom Encino-Tarzana Regional Medical Center in Los Angeles, der erklärte, dank der neuen Verfahren, die er bei der Behandlung von Frühgeborenen, deren Eltern Zeugen Jehovas sind, entwickelt habe, verwende er jetzt bei allen seinen kleinen Patienten nur noch halb soviel Blut. Natürlich haben sich derartige neue Verfahren auch bei Erwachsenen als wertvoll erwiesen.
Dr. Jean-François Hardy vom Montreal Heart Institute stellte fest: „Der völlige Verzicht auf Bluttransfusionen bei einer Operation läßt sich nicht mit Hilfe einer einzelnen therapeutischen Maßnahme erreichen ... Das kann nur durch eine Kombination verschiedener Verfahren erzielt werden.“
Die neuen Techniken betreffen 1. die präoperative Planung, 2. das Vermeiden von Blutverlust während der Operation und 3. die Operationsnachsorge. Ganz offensichtlich spielt der Faktor Zeit bei allen chirurgischen Vorgehensweisen eine maßgebliche Rolle, das heißt die Frage, ob genügend Zeit bleibt, den Patienten vor der Operation hinreichend vorzubereiten, oder ob eine Notoperation dies nicht zuläßt.
Die günstigsten Voraussetzungen für transfusionslose Chirurgie sind gegeben, wenn durch eine präoperative Behandlung die Blutwerte und der allgemeine Gesundheitszustand des Patienten optimiert werden können. Das wird unter anderem erreicht durch eine Supplementierung von Eisen und Vitaminen in hoher Konzentration und, wo angebracht, durch die Verabreichung von synthetischem Erythropoetin, einem Medikament, das das Knochenmark des Patienten zur verstärkten Produktion roter Blutkörperchen anregt. Mikroanalytische Techniken erlauben es, weniger Blut für Tests zu entnehmen und gleichzeitig umfangreichere Ergebnisse daraus zu erzielen. Für Frühgeborene und für ältere Patienten, die viel Blut verloren haben, ist dies von lebenswichtiger Bedeutung.
Nützlich sind auch Volumenersatzmittel: intravenös verabreichte Flüssigkeiten, die das Blutvolumen auffüllen. In manchen Einrichtungen wird überdies bei Patienten, die viel Blut verloren haben, mit Hilfe einer Sauerstoffüberdruckkammer die Sauerstoffversorgung verbessert. Wie Dr. Robert Bartlett in Atlanta erklärte, ist die Überdruckkammer ein sehr wirkungsvolles Werkzeug, das aber mit Sorgfalt eingesetzt werden muß, weil Sauerstoff in hohen Dosen toxisch sein kann.
Was den zweiten Schritt angeht — das Vermeiden von Blutverlust während der Operation —, steht eine große Vielzahl neuer Instrumente und Technologien zur Verfügung. Mit ihrem Einsatz läßt sich entweder der Blutverlust auf ein Mindestmaß beschränken, oder sie sind minimal invasiv, was nicht nur den Blutverlust, sondern auch das Trauma verringert, oder sie tragen dazu bei, das patienteneigene Blut, das bei einem Eingriff normalerweise verlorenginge, aufzufangen und unmittelbar wieder zuzuführen. Nachstehend seien nur einige dieser neuen Techniken aufgeführt:
◼ Mit einem Elektrokauter lassen sich beim Schneiden die Gefäße durch Hitzeanwendung verschließen.
◼ Mit einem Argonstrahlkoagulator können blutende Gefäße während der Operation verschlossen werden.
◼ Mit einem Ultraschallskalpell kann durch die Reibung der Klinge im Gewebe sowie durch Schwingungen, in die die Klinge versetzt wird, sowohl geschnitten als auch koaguliert werden.
◼ Bei bestimmten Operationsverfahren kommen häufig Medikamente wie Tranexamsäure und Desmopressin zum Einsatz, um die Blutgerinnung zu verbessern und so den Blutverlust zu reduzieren.
◼ Mit einer hypotensiven Anästhesie läßt sich der Blutverlust verringern, indem der Blutdruck herabgesetzt wird.
Bedeutsam ist auch die Weiterentwicklung intraoperativ eingesetzter Blutsammelgeräte. Damit läßt sich während einer Operation das austretende Eigenblut des Patienten auffangen und unmittelbar wieder zuführen, ohne daß es gelagert werden muß.c Neuere Geräte sind in der Lage, während sie an den Kreislauf des Patienten angeschlossen sind, Blut in seine Bestandteile zu trennen und die benötigten wieder zuzuführen.
Nach dem Kongreß in Riga erfuhren Jehovas Zeugen in Schweden davon, daß in Lettland Cell Saver benötigt wurden, und spendeten zwei Geräte. Die Ankunft des ersten Geräts in Lettland stieß auf so großes Interesse, daß landesweit im Fernsehen darüber und über den Nutzen transfusionsloser Chirurgie berichtet wurde.
Häufig kommen in der Operationsnachsorge viele derselben blutbildenden Maßnahmen zum Einsatz wie vor der Operation. Die Nachbehandlung von Patienten, die keine Bluttransfusionen erhielten, ist jedoch oft mit weniger Komplikationen verbunden als bei Patienten, die transfundiert wurden. Woran liegt das?
Erstaunliche Ergebnisse
Zwar erfordern Techniken, die es erlauben, auf Bluttransfusionen zu verzichten, vor und während einer Operation größeren Aufwand, doch haben Chirurgen festgestellt, daß die Patienten davon profitieren, weil sie sich viel schneller von dem Eingriff erholen. Sie sind nicht von Komplikationen betroffen, die häufig mit Transfusionen einhergehen. Die Dauer des Krankenhausaufenthalts von Patienten, denen kein Blut gegeben wurde, ist nachweislich kürzer.
Dr. Todd Rosengart vom New York Hospital-Cornell University Medical Center berichtete, daß an seinem Institut dank einer blutsparenden Achtpunktestrategie komplexe Operationen am offenen Herzen ohne Bluttransfusionen sicher durchgeführt werden können. Dr. Manuel Estioko vom Good Samaritan Hospital in Los Angeles sprach von dort gewonnenen „umfassenden Erfahrungen durch Hunderte von Operationen ohne Blut am offenen Herzen“. Dr. S. Subramanian berichtete über Erfolge mit transfusionslosen Operationen am offenen Herzen bei Kindern im Kinderkrankenhaus von Miami.
Orthopädische Chirurgie, insbesondere der Hüftgelenkersatz, stellt eine große Herausforderung dar. Doch wie der im Krankenhaus in Uddevalla (Schweden) tätige Dr. Olle Hägg in Riga berichtete, gelang es ihm und seinen Mitarbeitern mittels einer guten Operationsstrategie, verknüpft mit hoher Präzision beim Operieren, den Blutverlust bei Patienten, die Zeugen Jehovas sind, signifikant zu verringern. Und Richard R. R. H. Coombs von der Imperial College School of Medicine in London sagte sogar, „bei 99,9 Prozent aller orthopädischen Operationen“ könne auf Bluttransfusionen verzichtet werden.
Zukunftsperspektiven
Die Zahl der Krankenhäuser und Ärzte, die transfusionslose Behandlungsmethoden einsetzen, steigt ständig. Kongresse, auf denen einschlägige Kenntnisse ausgetauscht werden, haben sich als höchst hilfreich erwiesen, weil Ärzte dadurch von Alternativen erfahren, die erfolgreich erprobt worden sind und in die reguläre Praxis Einzug gehalten haben.
Dr. Richard Nalick von der medizinischen Fakultät der Universität von Südkalifornien sagte: „Immer mehr Patienten wünschen eine medizinische und chirurgische Behandlung ohne Bluttransfusionen ... Transfusionslose Medizin und Chirurgie entsprechen dem heutigen Stand der Wissenschaft und sollten nicht als weniger wirkungsvolle ‚Therapiealternative‘ mißverstanden werden.“
Da die mit Bluttransfusionen verbundenen Schwierigkeiten weiter bestehen und der Ruf der Öffentlichkeit nach Alternativen lauter wird, sind die Aussichten für die transfusionslose Chirurgie hervorragend.
[Fußnoten]
a Jehovas Zeugen nehmen für sich und ihre Kinder medizinische Behandlung in Anspruch. Gestützt auf das eindeutige biblische Verbot, Blut in den Körper aufzunehmen, sind sie jedoch gegen Bluttransfusionen (1. Mose 9:3, 4; Apostelgeschichte 15:28, 29). Ausführliche Informationen enthält die Broschüre Wie kann Blut dein Leben retten?, herausgegeben von der Wachtturm-Gesellschaft.
b Die vorliegende Abhandlung über die verschiedenen Techniken, die auf den genannten Kongressen vorgestellt wurden, stellt keine Empfehlung von Erwachet! dar, sondern dient lediglich der Berichterstattung.
c Unter welchen Umständen der Einsatz derartiger Geräte akzeptabel ist und welche Rolle das Gewissen dabei spielt, steht im Wachtturm vom 1. März 1989, Seite 30, 31 nachzulesen.
[Bild auf Seite 20, 21]
Immer mehr Ärzte respektieren den Wunsch ihrer Patienten, bei einer Operation auf Bluttransfusionen zu verzichten