Würdest du ein Gerücht verbreiten?
IM Mittelalter verbreitete sich in Europa unter den „Christen“ ein unglaubliches Gerücht. Hinter vorgehaltener Hand erzählte man, die Juden würden jedes Jahr zur Passahzeit einen Christen ermorden und sein Blut für ihre Rituale verwenden. Manchmal würden sie sogar Christenkinder fangen und sie furchtbar quälen, bevor sie sie töteten und das Blut für ihre Zwecke gebrauchten. Dieses Gerücht hielt sich tatsächlich bis in unser Jahrhundert, und es wurde von den Nationalsozialisten aufgegriffen, um die Judenverfolgung zu rechtfertigen.
Dem Gerücht ging man zwar mehrmals nach, und es wurde auch widerlegt, dennoch hielt es sich fast tausend Jahre. Hättest du dich an seiner Verbreitung beteiligt, wenn es dir erzählt worden wäre? Es ist zu hoffen, daß wir alle über genügend gesunden Menschenverstand verfügt oder soviel Mitleid gehabt hätten, es nicht zu tun. Doch Gerüchte sind hartnäckig und komplex. Sind sie erst einmal im Umlauf, lassen sie sich kaum mehr aufhalten. Auch heute werden immer noch absurde Gerüchte aufgebracht, die sich wie ein Lauffeuer verbreiten.
Zum Beispiel wurde die große amerikanische Waschmittelfirma Procter & Gamble unlängst das Opfer des Gerüchts, sie unterstütze den Satanskult und ihr Markenzeichen sei in Wirklichkeit ein dämonisches Symbol. Ein anderes weitverbreitetes Gerücht besagte, eine bekannte Schnellrestaurantkette würde in ihren Hamburgern Würmer verarbeiten. Vor einigen Jahren erzählte man sich, ein Mitglied der Beatles sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und durch einen Doppelgänger ersetzt worden. Selbst die Veröffentlichungen der Wachtturm-Gesellschaft sind Gegenstand von Gerüchten gewesen. So ging zum Beispiel das Gerücht um, einer der Zeichner habe heimlich Bilder von Dämonen in die Illustrationen eingefügt, bis er schließlich entdeckt und ihm die Gemeinschaft entzogen worden sei.
Hast du dich daran beteiligt, eine dieser Geschichten weiterzuerzählen? Wenn ja, dann hast du — vielleicht unwissentlich — eine Unwahrheit verbreitet, denn sie waren alle aus der Luft gegriffen. Das Gerücht, das die Veröffentlichungen der Gesellschaft betraf, hat sich zweifellos nachteilig ausgewirkt und war auch eine Verleumdung der eifrigen Christen, die viele Stunden auf die Zeichnungen verwenden, um die Zeitschriften, Broschüren und Bücher ansprechend zu gestalten. Es war genauso lächerlich, als würde man behaupten, Gott habe bei der Erschaffung der Himmelskörper absichtlich den „Mann im Mond“ gebildet.
Vor langer Zeit sagte Jehova zu den Israeliten: „Du sollst kein falsches Gerücht verbreiten!“ (2. Mose 23:1, Schlachter-Bibel). Es gab gute Gründe für dieses Gebot. Ein solches Gerücht kann schlimme Folgen haben. Wer es verbreitet, verbreitet eine Lüge — etwas, was Jehova haßt (Sprüche 6:16-19). Durch ein Gerücht wird der Ruf der betroffenen Person oder Einrichtung in Mitleidenschaft gezogen. Und derjenige, der darauf hört, kann irregeführt und womöglich dazu veranlaßt werden, unweise zu handeln (4. Mose 13:32 bis 14:4). Es wäre wirklich lieblos, seine Freunde so zu täuschen. Außerdem verstößt ein solches Vorgehen gegen das von Gott gegebene Gebot: „Ihr sollt nicht falsch handeln, irgendeiner mit seinem Genossen“ (3. Mose 19:11; Sprüche 14:25).
Wir sollten daher sorgsam darauf achten, ob es sich um Tatsachen handelt, wenn wir etwas weitererzählen, was wir selbst nur gehört haben. Aber wie können wir das tun? Ein Verständnis über die Natur der Gerüchte wird uns dabei helfen.
Wie entsteht ein Gerücht?
Ein Gerücht ist „etwas, was allgemein gesagt, weitererzählt wird, ohne daß bekannt ist, ob es auch wirklich zutrifft“ (Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache). Gerüchte können von Mund zu Mund oder — mit einem etwas „offizielleren“ Anstrich versehen — sogar durch die Presse und den Rundfunk verbreitet werden. Aber etwas, was vom Fernsehen ausgestrahlt wurde oder in der Zeitung stand, muß deshalb noch lange nicht wahr sein.
Wie entstehen Gerüchte? Das festzustellen ist oft unmöglich. Eine unklare Äußerung mag aufgegriffen, wiederholt und aufgebauscht werden. Aus der Andeutung, etwas könnte geschehen, kann leicht die Behauptung werden, daß etwas geschehen wird, die wiederum verdreht wird, bis es heißt, daß es geschehen ist. Selbst ein Scherz kann ein Gerücht auslösen, wenn er von jemandem ernst genommen und weitererzählt wird.
In einer Atmosphäre der Furcht kommen schnell Gerüchte auf. Als der Prophet Hesekiel die Zustände voraussagte, die kurz vor der Zerstörung Jerusalems herrschen würden, erwähnte er auch folgendes: „Wenn die Bedrängnis kommt, werden sie Frieden suchen; aber er wird nicht da sein. Schrecken über Schrecken wird kommen, und Gerücht über Gerücht“ (Hesekiel 7:25, 26, Allioli-Bibel). Jerusalem würde eine Brutstätte für Gerüchte werden, wenn die Bevölkerung von Furcht erfaßt worden wäre.
Gerüchte können auch ganz bewußt in Umlauf gesetzt werden. Als die Soldaten, die das Grab des hingerichteten Jesus bewachten, die erstaunlichen Ereignisse berichteten, deren Zeugen sie bei der Auferstehung Jesu gewesen waren, wurden sie von den älteren Männern der Juden aufgefordert, ein Gerücht zu verbreiten: „Sagt: ‚Seine Jünger kamen bei Nacht und stahlen ihn, während wir schliefen.‘“ Die Soldaten gehorchten. „Da nahmen sie die Silberstücke und taten, wie sie angewiesen worden waren; und dieses Wort ist unter den Juden verbreitet worden bis auf den heutigen Tag“ (Matthäus 28:13-15).
Warum sich Gerüchte verbreiten
Noch interessanter ist die Frage, warum sich Gerüchte, die einmal in die Welt gesetzt wurden, so hartnäckig halten. Oft geschieht es ganz einfach deshalb, weil die Leute das Gesagte glauben wollen. Gewisse Zeitungsreporter machen mit Gerüchten über Prominente Karriere. Sie wären bestimmt sehr schnell arbeitslos, wenn für solche Geschichten kein Markt bestünde. Viele Menschen gleichen den Griechen in den Tagen des Paulus, die stets begierig waren, „etwas Neues“ zu hören (Apostelgeschichte 17:21).
Gerüchte verbreiten sich auch, weil sie zu weitverbreiteten Mißverständnissen und Vorurteilen passen. Das unwahre Gerücht, die Juden würden Christen töten, traf sicher auf empfängliche Ohren, da den Nichtjuden das Verhalten der Juden unverständlich war. Sie hatten vor den Juden Angst oder waren neidisch auf sie. Gerüchte mögen auch ein allgemeines Unbehagen über irgend etwas widerspiegeln. Das Gerücht über die Würmer in den Hamburgern kam vielleicht auf, weil die Leute wegen der Zusätze in den Nahrungsmitteln und wegen nicht deklarierter Bestandteile beunruhigt sind. Und das Gerücht über die Firma Procter & Gamble wurzelte möglicherweise in der Faszination, die Dämonismus und Spiritismus heute auf viele Menschen ausüben.
Gerüchte gedeihen besonders dort, wo Regierungen oder Behörden Geheimniskrämerei betreiben. Sie können auch durch ein gewisses Wunschdenken genährt werden. Jahrzehntelang wurden Geschichten verbreitet, daß auf der Erde fliegende Untertassen gelandet seien, angeblich bemannt mit freundlichen Geschöpfen, die von anderen Planeten mit einer wissenschaftlich hochentwickelten Gesellschaft stammten. In unserem unruhigen 20. Jahrhundert mag sich mancher damit trösten wollen, daß solche Wesen existieren.
Ein Gerücht kann auch durch eine falsche Interpretation von Tatsachen entstehen oder scheinbar bestätigt werden. Im 1. Jahrhundert ging das Gerücht um, der Apostel Paulus würde die Juden zum Abfall von Moses auffordern (Apostelgeschichte 21:21, 24). Das Gerücht an sich entbehrte jeder Grundlage, aber vielleicht wurde es dadurch genährt, daß sich Paulus an die Anweisung der Apostel und älteren Männer in Jerusalem hielt und lehrte, daß die Heidenchristen das mosaische Gesetz nicht zu halten brauchten (Apostelgeschichte 15:5, 28, 29).
Zwischen Wahrheit und Unwahrheit unterscheiden
Handelt es sich denn bei allem, was mündlich verbreitet wird, um Gerüchte? Keineswegs. In den Tagen Josuas erklärte Rahab, eine Bewohnerin Jerichos, den israelitischen Spähern: „Denn wir haben gehört, wie Jehova die Wasser des Roten Meeres vor euch her austrocknete, als ihr aus Ägypten kamt, und was ihr den beiden Königen der Amoriter angetan habt, die jenseits des Jordan waren“ (Josua 2:10, 11). Diese Berichte, die Rahab gehört hatte, entsprachen der Wahrheit.
Ähnlich war es, als Jesus überall im Land Israel Zeichen vollbrachte. In der Bibel heißt es: „Und der Bericht über ihn drang durch ganz Syrien; und man brachte ihm alle, denen es schlechtging, die mit verschiedenen Leiden und qualvollen Übeln behaftet waren, von Dämonen Besessene und Epileptiker und Gelähmte, und er heilte sie“ (Matthäus 4:23, 24). Die Berichte über Jesus entsprachen ebenfalls der Wahrheit.
Wie können wir aber feststellen, ob etwas den Tatsachen entspricht oder nur ein Gerücht ist? Es folgen einige Anregungen, worauf man achten sollte, wenn jemand etwas Außergewöhnliches erzählt:
Wer erzählt die Geschichte? Gehört er zu denen, die nur etwas sagen, wenn sie sich sicher sind, daß es sich um Tatsachen handelt? Oder versucht er stets, seine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken? Ist er darauf aus, als erster pikante Geschichten zu berichten? Man darf bei der Frage, ob etwas zutreffend ist oder nicht, auf keinen Fall unberücksichtigt lassen, von wem es erzählt wird. Und in diesem Zusammenhang werden wir an folgendes erinnert: Wer eine verantwortliche Stellung bekleidet oder eine Vertrauensstellung hat, wie zum Beispiel Älteste in der Versammlung oder reife Christinnen, sollte sich völlig sicher sein, daß es sich um Tatsachen handelt, bevor er etwas — wenn überhaupt — weitererzählt. Man wird nämlich das, was solche Personen sagen, viel eher glauben und weitergeben (Apostelgeschichte 20:28; Titus 2:3).
Kann derjenige, der dir die Geschichte erzählt hat, überhaupt die Tatsachen kennen? Typische Gerüchte beginnen oft folgendermaßen: „Ich habe von meinem Onkel gehört, der den Mann kennt, der da und da arbeitet ...“ Sei auf der Hut, wenn du eine solche Einleitung hörst! Es gibt ein Spiel, bei dem Kinder im Kreis stehen und ein Kind seinem Nachbarn einen kurzen Satz zuflüstert. Dieser flüstert ihn wiederum seinem Nachbarn zu und so weiter. Wenn der Satz im Kreis herumgegangen ist, haben die Kinder ihren Spaß daran, festzustellen, wie sehr er sich verändert hat. Zwar haben schon viele dieses Spiel gespielt. Haben sie aber auch eine Lektion daraus gelernt? Wenn etwas von einem zum anderen weitergegeben wird, unterliegt es unvermeidlich Veränderungen, und schon bald hat es nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Original. Wenn du daher nicht genau feststellen kannst, woher eine Geschichte stammt, ist es wahrscheinlich sicherer, anzunehmen, daß sie entstellt oder sogar völlig falsch ist.
Ist die Geschichte verleumderisch? Wenn der gute Ruf gewisser Personen, Berufe, Rassen oder Organisationen herabgesetzt wird, solltest du äußerst vorsichtig sein. Das trifft auch dann zu, wenn du keine besondere Sympathie für die Person oder Gruppe hast. Verleumdung ist Verleumdung, und Lüge ist Lüge, ganz gleich, wer die Opfer sind. Jesus verurteilte zwar offen die Schriftgelehrten und Pharisäer, könnte man sich aber vorstellen, daß er verleumderische Gerüchte über sie verbreitet hätte? (1. Petrus 2:21, 22).
Ist die Geschichte glaubwürdig? Ist es wirklich wahrscheinlich, daß Raumschiffe unseren Planeten besuchen oder ein großes Unternehmen einen Pakt mit dem Teufel schließt oder Gott hingegebene Künstler versteckte Gesichter in die Bilder von Zeitschriften zeichnen? Derart unglaublich klingende Geschichten sollte man mit größtem Vorbehalt aufnehmen.
Behalte Gerüchte für dich, gib nur die Wahrheit weiter
Damit soll nicht gesagt werden, daß sich niemals erstaunliche Dinge zutragen. Das geschieht mitunter. Aber wenn wir davon hören, sollten wir weise handeln und nicht leichtgläubig alles akzeptieren, was erzählt wird. Als in Palästina die Geschichte von einem Zimmermann aus Nazareth, der Wunder wirkte, verbreitet wurde, trafen die Berichte tatsächlich zu (Matthäus 4:24). Dennoch sandte Johannes der Täufer, als er davon erfuhr, seine Jünger aus, um herauszufinden, was wirklich vor sich ging (Matthäus 11:2, 3). Das war eine wohlüberlegte Reaktion.
Der Apostel Thomas äußerte Zweifel, als er von der Auferstehung Jesu hörte (Johannes 20:24, 25). Doch er hätte eigentlich erkennen müssen, daß es sich dabei nicht um ein Gerücht handeln konnte, das jeder Grundlage entbehrte. Ihm war bekannt, daß Jesus selbst Tote auferweckt hatte, und er hatte Jesus von seinem bevorstehenden Tod und seiner Auferstehung sprechen hören (Matthäus 16:21; Johannes 11:43, 44). Außerdem erfuhr er die Nachricht von Personen, die er kannte und denen er vertrauen konnte. Und sie wiederholten auch nichts, was sie von einem Dritten erfahren hatten. Sie waren Augenzeugen, und er hätte ihnen Fragen stellen können, um festzustellen, ob sie sich vielleicht getäuscht hatten.
Berichte können also durchaus wahr sein. Doch schon der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß in jedem Land, in jedem Dorf und auch in jeder Organisation Gerüchte entstehen können, insbesondere solche, die die verborgenen Wünsche und Ängste der Gemeinschaft widerspiegeln. Und die Wahrscheinlichkeit, daß es sich bei einem Gerücht bestenfalls um eine Entstellung der Wahrheit handelt, ist sehr groß. Wenn du daher nicht feststellen kannst, woher eine Geschichte ursprünglich stammt, solltest du zunächst darüber nachdenken, und du solltest sicher sein, daß es sich um Tatsachen handelt, bevor du sie an andere weitergibst. Denke daran: „Bei der Menge von Worten fehlt Übertretung nicht, wer aber seine Lippen in Schach hält, handelt verständig“ (Sprüche 10:19). Erweise dich für Gerüchte nicht als Kanal, sondern als eine „Sackgasse“. Auf diese Weise wirst du die Worte des Apostels Paulus befolgen: „Deshalb, da ihr jetzt die Unwahrheit abgelegt habt, rede ein jeder von euch mit seinem Nächsten Wahrheit; denn wir sind Glieder, die zueinander gehören“ (Epheser 4:25).
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Gerüchte sind hartnäckig. Sind sie erst einmal im Umlauf, lassen sie sich kaum mehr aufhalten.
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Ein Gerücht, das du verbreitest, könnte auch eine Lüge sein
[Herausgestellter Text auf Seite 30]
Nicht bei allem, was mündlich weitergegeben wird, muß es sich um ein Gerücht handeln
[Herausgestellter Text auf Seite 31]
Kann derjenige, der dir die Geschichte erzählt hat, überhaupt die Tatsachen kennen?