„Liebe“ in den Christlichen Griechischen Schriften
ZU DER Zeit, als die Christlichen Griechischen Schriften geschrieben wurden, war Griechisch die Weltsprache. Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß diese Schriften in kürzester Zeit die größtmögliche Verbreitung erfuhren. Die griechische Sprache ist zudem eine sehr bestimmte, genaue Sprache, und das damalige Koine-Griechisch war hoch entwickelt und diente am besten dazu, die Gedanken genau wiederzugeben. Das wird durch die Wörter bestätigt, die es für den Begriff „Liebe“ aufweist.
Im Deutschen sprechen wir von der „Liebe“ zwischen den Geschlechtern, der „Liebe“ einer Mutter zu ihrem Kind, von Freundes-„Liebe“ und von der selbstlosen „Liebe“ Gottes. Im Griechischen werden hierfür jedoch vier voneinander völlig unabhängige Wörter gebraucht, nämlich éros, storgé, philéo und agápe. Da die späteren griechischen Dichter ihrem Liebesgott, dem Sohn der Aphrodite, den Namen Eros gaben, wurde éros die Bezeichnung für die erotische Liebe, die Liebe zwischen den Geschlechtern. Eros entspricht dem bekannteren römischen Cupido oder Amor, der gewöhnlich mit Pfeil und Bogen dargestellt wird. Es ist sehr bezeichnend, daß der Ausdruck éros in den Christlichen Griechischen Schriften kein einziges Mal vorkommt.
Storgé ist der Ausdruck, der dazu verwandt wird, die natürliche Zuneigung zu beschreiben, die auf Blutsverwandtschaft beruht und die in dem geflügelten Wort „Blut ist dicker als Wasser“ zum Ausdruck kommt. Er kommt in den Christlichen Griechischen Schriften nur dreimal vor, und zwar als Eigenschaftswort. In zwei Fällen erscheint er mit der verneinenden griechischen Vorsilbe a, die „ohne“ bedeutet. Demzufolge sagt Paulus in Römer 1:31, wo er zeigt, wie weit die Menschen von der ursprünglichen Vollkommenheit abgefallen sind, und in 2. Timotheus 3:3 (NW), wo er die gefährlich bösen Zustände der letzten Tage voraussagt, daß die Menschen „ohne natürliche Zuneigung [a’storgos]“ seien. Und in dem Falle, in dem Paulus das enge verwandtschaftliche Verhältnis, das zwischen Christen bestehen sollte, hervorheben will, wählt er einen zusammengesetzten Ausdruck, in dem philéo und storgé miteinander verbunden sind. Er sagt: „In brüderlicher Liebe habt eine zarte Zuneigung [philo’storgos] zueinander.“ — Röm. 12:10, NW.
Die nächsthöhere Form der Liebe ist philéo, aber wir werden diese besser verstehen können, wenn wir zuerst den höchsten Grad der Liebe, nämlich agápe, betrachten. Strongs Dictionary definiert diese Liebe wie folgt: „[Sie] umfaßt besonders die Entscheidung und die wohlerwogene Zustimmung des Willens aus Prinzipientreue, Pflichtbewußtsein und Schicklichkeit.“ Im Gegensatz zu dem Wort éros, das in der Bibel überhaupt nicht erscheint, kommt das Wort agápe in all seinen verschiedenen Formen in den Christlichen Griechischen Schriften über 250mal vor, dreimal so oft wie das Wort philéo in allen seinen Formen.
Wenn wir wissen, was agápe bedeutet, können wir verstehen, warum der Apostel Johannes in bezug auf Gott nicht die Wörter éros und storgé und auch nicht philéo gebraucht, sondern sagt, daß Gott die Personifizierung des grundsatztreuen, selbstlosen Interesses an anderen, nämlich agápe-Liebe sei. Wenn wir jemanden wirklich lieben (agapáo, Verbform von agápe), sind wir an seinem Wohlergehen und Glück interessiert. So „empfiehlt Gott seine eigene Liebe zu uns dadurch, daß Christus für uns starb, als wir noch Sünder waren“. — 1. Joh. 4:8; Röm. 5:8, NW.
„Die Frucht des Geistes ist: Liebe [agápe].“ „Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe [agápe] untereinander habt.“ Diese „Liebe“ „erbaut“ und „bedeckt eine Menge von Sünden“. Sie beruht nicht auf einer natürlichen Anziehung, nicht auf der Abstammung, zum Beispiel auf der Zugehörigkeit zur selben Familie, Nation oder Rasse, und auch nicht auf Verträglichkeit oder Gleichgesinntheit, sondern ausschließlich auf Grundsätzen und Selbstlosigkeit und wird durch unseren Geist geleitet, weil Gott dies gebietet. — Gal. 5:22; Joh. 13:35; 1. Kor. 8:1; 1. Pet. 4:8, NW.
Diese agápe-Liebe beschreibt uns Paulus in treffender Weise. Nichts, was wir tun, wird uns nützen, es sei denn, wir tun es aus Liebe. Sie ist langmütig, entgegenkommend und nicht eifersüchtig, sie prahlt nicht, bläht sich nicht auf, benimmt sich nicht unanständig, läßt sich nicht zum Zorn reizen und ist nicht auf ihre eigenen Interessen bedacht. Sie trägt Schädigungen nicht nach, freut sich nicht über Ungerechtigkeit, sondern freut sich einzig und allein mit der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles und erduldet alles. Sie versagt nie. Kein Wunder, daß von den Begriffen Glaube, Hoffnung und Liebe ‚die Liebe die größte ist‘! — 1. Kor. 13:1-13, NW.
Die agápe-Liebe kann verschiedene Grade erreichen, weshalb Christen ermuntert werden, „innige Liebe zueinander“ zu hegen. Sie müssen daran arbeiten, sie zu vervollkommnen, damit sie „Freimut der Rede besitzen am Tage des Gerichts“. Wir haben das Gebot empfangen, Gott nicht nur zu lieben (agapáo), sondern es mit unserem ganzen Herzen, unserer ganzen Seele, unserem ganzen Sinn und unserer ganzen Kraft zu tun und unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst. — 1. Pet. 4:8; 1. Joh. 4:17, 18; Mark. 12:29-31, NW.
Philéo oder die freundschaftliche Liebe oder Zuneigung steht einerseits unter der agápe-Liebe und andererseits über ihr. Inwiefern? Sie steht unter ihr, was die Qualität betrifft, aber über ihr, da sie ein Vorrecht ist. Philéo ist in dem ersten Teil von Wörtern wie Philadelphia (Bruderliebe), Philosophie (Liebe zur Weisheit), Philanthropie (Menschenliebe) enthalten und in vielen anderen Wörtern, die in der Heiligen Schrift erscheinen, aber nicht in den deutschen Sprachschatz übergingen, zum Beispiel in philarguría (Geldliebe bzw. Liebe zum Silber) und philágathos (Liebe zum Guten oder Tugendliebe). Jesus gebrauchte dieses Wort, als er sagte, daß die religiösen Führer gern die ersten Plätze in den Synagogen einnähmen und daß die Welt das Ihrige lieb habe. Daß diese Liebe unter der agápe-Liebe steht, geht aus den Worten des Petrus hervor, mit denen er uns auffordert, ‚zu unserer brüderlichen Zuneigung [philadelphía] Liebe [agápe] hinzuzufügen‘. — Luk. 20:46; Joh. 15:19; 2. Pet. 1:7, NW.
Daß Zuneigung (philéo) ein Vorrecht ist, ist daran zu erkennen, daß Gott den Sündern gegenüber seine agápe-Liebe erwies, wogegen „der Vater Zuneigung zum Sohn hat“. Aus diesem Grunde versicherte Jesus seinen Nachfolgern, daß der Vater sie nicht nur liebe, sondern Zuneigung zu ihnen habe: „Der Vater selbst hat Zuneigung zu euch.“ Und weshalb? „Weil ihr Zuneigung zu mir hattet“, und nicht nur wegen ihres Bedürfnisses nach Zuneigung. Ja, Gott hat nur zu jenen Zuneigung oder betrachtet nur jene als seine Freunde, die es verdienen. — Joh. 5:20; 16:27; Jak. 2:23, NW.
Ebenso verhält es sich mit Jesus. Er liebte (agapáo) den reichen jungen Obersten, aber zu Johannes, seinem bevorzugten Apostel, hatte er Liebe und Zuneigung (philéo). (Mark. 10:21; Joh. 19:26; 20:2) In seinem Gespräch, das Jesus nach seiner Auferstehung mit Petrus hatte, fragte er diesen zuerst zweimal, ob er ihn liebe, aber beim dritten Male fragte er ihn, ob er ihm zugetan sei oder Zuneigung zu ihm habe. Jedesmal verwandte der feurige Petrus in seiner Antwort den herzlicheren Ausdruck: „Meister, du weißt, daß ich dir zugetan bin [Zuneigung zu dir habe].“ — Joh. 21:15-17, NW.
Heute sehen wir überall eine Überbetonung der geschlechtlichen Liebe, éros, wogegen es immer mehr an natürlicher Zuneigung, storgé, mangelt. Die Welt weiß nichts von der agápe-Liebe, die die Frucht des Geistes Gottes ist, unseren Sinn und Willen berührt, völlig selbstlos ist und auf Grundsätzen beruht. Jehova Gott ist die Personifikation dieser Liebe, und es wird uns geboten, ihm hierin zu gleichen. Diese Liebe müssen wir zu Gott, zu unserem Nächsten, zu unseren Feinden und sogar zu uns selbst haben. Aber als Christen können wir nur unseren Mitchristen gegenüber Zuneigung, philéo, zum Ausdruck bringen. — Matth. 5:44-48; 1. Kor. 15:33.