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Was ist die Privatsphäre?Erwachet! 1988 | 22. Februar
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Einstellung gegenüber der Privatsphäre
„Für Privatsphäre gibt es im Portugiesischen nicht einmal ein entsprechendes Wort. In den Wörterbüchern kommt privacidade nicht vor“, berichtete die brasilianische Zeitung O Estado de S. Paulo. Das war 1979. Erst kürzlich, im Jahre 1986, war in einem brasilianischen Wörterbuch das Wort privacidade als Lehnübersetzung aus dem Englischen zu finden. Auch in der koreanischen Sprache existiert kein Wort, das dem Wort „Privatsphäre“ entspricht.
In Japan ist die Situation ähnlich. „Es gibt tatsächlich kein japanisches Wort für ‚Privatsphäre‘“, erklärte Donald Keene, ein amerikanischer Japanologe. „Im gruppenorientierten Japan“, so die Kodansha Encyclopedia of Japan, „wird das Recht auf ein ungestörtes Privatleben dem Recht der Familie, Gruppe oder Gemeinde, über die Angelegenheiten des einzelnen informiert zu sein und in diese einzugreifen, untergeordnet.“ Sucht beispielsweise jemand bei einem japanischen Unternehmen eine Anstellung, muß er auf folgende Fragen gefaßt sein: Kommen Sie gut mit Ihrer Frau aus? Wo ist sie beschäftigt? Wie hoch ist ihr Verdienst? Wie alt sind Ihre Kinder? Welche Schule besuchen sie? Wenn jemand ledig ist und die Stellung bekommen hat, könnte der Vorgesetzte beispielsweise sagen: „Es ist für Sie an der Zeit, sich eine Frau zu suchen und eine Familie zu gründen.“
Würde so etwas bei dir schon als unentschuldbarer Eingriff in die Privatsphäre gelten? Der japanische Angestellte empfindet nicht unbedingt so. Die Frage „Wann fühlen Sie sich wohl?“ beantworteten nur 8 Prozent der Japaner mit den Worten: „Wenn ich allein bin.“ Fast zwei Drittel der Befragten sagten, daß sie sich am wohlsten fühlen, wenn sie mit Familienangehörigen oder Freunden zusammen sind.
Eine Japanerin, die auf den Philippinen heiratete, erschrak jedoch über das, was bei ihrer Hochzeit vor sich ging. Sie fragte ihren Mann, einen Filipino, wer all die Hochzeitsgäste seien. „Ich kenne sie nicht“, antwortete er. „Wir bereiten eine Menge Speisen zu, und jedermann kann kommen und sich mit uns freuen.“ Unter den Filipinos gilt das als ein Zeichen von Gastfreundschaft. Welch ein Unterschied zu vielen europäischen Ländern, wo man erst nach einer formellen Einladung einen Besuch macht oder an einer Feier teilnimmt!
Bevor man indes gewisse Ansichten über die Privatsphäre als unannehmbar zurückweist, sollte man versuchen, die positive Seite der Ansichten anderer zu erkennen. Ein Europäer bemängelt vielleicht, daß in anderen Gesellschaftsformen die Privatsphäre zu kurz kommt. Doch hat man dort die Menschen gelehrt, fast alles mit ihren Angehörigen und Freunden gemeinsam zu tun. Es wird erwartet, die Privatsphäre zu opfern, statt sie zu schützen.
Zu überwindende Probleme
Wo der private Bereich sehr begrenzt ist, gibt es natürlich Umstände, die einige als Probleme ansehen. Wenn Personen, die in einer solchen Gesellschaft leben, sich geistig oder auf andere Art persönlich beschäftigen möchten, benötigen sie eine hohe Konzentrationsfähigkeit. Donald Keene schrieb darüber in dem Buch Living Japan: „Die einzige wirkliche Privatsphäre kommt dadurch zustande, daß man sich geistig vor den anderen verschließt, die sich nur wenige Meter entfernt aufhalten, und diese Art Privatsphäre ist in Japan notwendig.“
Das Leben auf engem Raum mit Verwandten und Freunden kann noch andere Probleme hervorrufen. Unter japanischen Ehepaaren besteht zum Beispiel das Bedürfnis, in einem „Liebeshotel“ Zuflucht zu suchen, um Intimitäten auszutauschen. In Brasilien, wo ein Vorhang eine Tür ersetzt oder Räume nur abgeteilte Kabinen sind, ist die Privatsphäre auf ähnliche Weise eingeschränkt. Gespräche und irgendwelche Geräusche können ungehindert in andere Räume dringen.
Aber nicht nur die Wohnverhältnisse können zu Problemen führen. Auch die freundliche Art der Menschen mag problematisch sein. Diejenigen, die gern für sich sind, kann so etwas ärgern. Wenn jemand zum Beispiel keine Kinder hat, wird er mit Fragen überfallen wie: „Haben Sie keine Kinder?“ „Warum nicht?“
Hat die Privatsphäre ihren Preis?
In Dänemark begegnet man dem übermäßigen Interesse an den Angelegenheiten anderer dagegen mit einer gewissen Geringschätzung. In Großbritannien schätzen es die Leute, wenn sie ihren privaten Bereich selbst vor ihren Kindern abschirmen können. Ja, in einer klassenbewußten Gesellschaft ist jede Gruppe bemüht, im Schutz ihrer Privatsphäre zu leben.
In Ländern, in denen hoher Respekt vor der Privatsphäre erwartet wird, hat dies seinen Preis. Als sich zum Beispiel ein achtzigjähriger Däne aus seiner Wohnung ausgeschlossen hatte, konnte er sich nicht dazu durchringen, bei seinem Nachbarn zu klingeln. Eineinhalb Stunden lang irrte er draußen in der Kälte umher, bis ihm ein Polizist half, einen Schlosser zu holen.
Probleme dieser Art veranlaßten die Dänen im Jahre 1970, einen Tür-zu-Tür-Feldzug zu starten. Das Ziel: Man wollte einsame Leute ermuntern, sich häufiger an ihre Nachbarn zu wenden und mit ihnen Kontakt zu pflegen. Im Verlauf von einigen Monaten beteiligten sich etwa 50 000 Dänen an diesem Feldzug. Ein derartiges Phänomen, das innerhalb einer Gesellschaft auftritt, die auf die Erhaltung der Privatsphäre bedacht ist, zeigt, wie notwendig es ist, sich um andere zu kümmern.
In der Bundesrepublik Deutschland ergab eine Befragung durch das Allensbacher Institut für Demoskopie, daß 62 Prozent der Befragten den wahren Sinn des Lebens im privaten Glück sehen. Das Institut kam zu dem Schluß: „Wo Hingabe an andere als Dummheit gilt und nur noch das eigene Glück und Glück der Allernächsten vor Augen steht, dürften wir schon bald tatsächlich in eine soziale Eiszeit geraten.“ In der Tat gehen der Mangel an Sorge um andere und Selbstsucht Hand in Hand.
In Japan ist ein Trend zur Selbstsucht mit Betonung auf mehr Privatsphäre zu beobachten. „Zu den vielen Änderungen innerhalb der japanischen Gesellschaft, die durch das rapide wirtschaftliche Wachstum des Landes verursacht worden sind“, schreibt Tetsuya Chikushi, ein führender japanischer Journalist, „gehört das Phänomen, daß Kinder in ihrem eigenen Zimmer aufwachsen, etwas, was viele als die größte gesellschaftliche Veränderung in der Geschichte Japans betrachten.“
Die Veränderung hat sowohl eine positive als auch eine negative Seite. Die Privatsphäre kann dem Kind helfen, ein Verantwortungsgefühl zu entwickeln, und ihm einen ungestörten Ort zum Lernen und zum Nachsinnen bieten. Kinder können in ihrem eigenen Zimmer aber auch zu Einsiedlern werden und den Kontakt zur Familie verlieren. Hiroshi Nakamura vom Kinderkulturinstitut in Japan wies auf solche negativen Gesichtspunkte hin, indem er sagte: „Je früher man unabhängig ist, um so besser; je wohlhabender, um so besser, je vollkommener die Privatsphäre, um so besser — genau diese Überlegungen verursachen die psychologische Kluft innerhalb der Familie.“
Die wachsende Selbstsucht in der japanischen Gesellschaft alarmiert viele Japaner. Ihr Dilemma hilft uns, die Notwendigkeit der Ausgeglichenheit zu erkennen.
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Eine ausgeglichene Ansicht über die PrivatsphäreErwachet! 1988 | 22. Februar
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Eine ausgeglichene Ansicht über die Privatsphäre
DIE Gründe, warum die Menschen ihren privaten Bereich abschirmen, sind mannigfaltig und grundverschieden. Jugendliche mögen allein sein wollen, um ihre Unabhängigkeit zu behaupten. Manche legen Wert darauf, daß ihre finanzielle Lage geheim bleibt, weil sie in fragwürdige Handlungen verwickelt sind. Personen, die auf Aids untersucht worden sind, sind oft darum besorgt, daß die Ergebnisse geheimgehalten werden. Und viele wünschen sich eine ruhige, abgeschiedene Umgebung, um nachdenken zu können.
Wann Ungestörtheit nötig ist
Wer sich in einer schwierigen Lage befindet, schätzt Zeiten, in denen er allein ist. Solche Zeiten des Alleinseins sind für Yoko, eine junge Tokioterin, wichtig, um mit allem fertig zu werden. Einmal nahm zum Beispiel ihre Schwiegermutter ein Huhn entgegen, das Yoko beim Metzger bestellt hatte, und warf es in den Mülleimer, nur weil sie Yoko in ein schlechtes Licht stellen wollte. Angesichts solcher tagtäglichen Vorkommnisse ist, wie Yoko sagt, die Zeit, die sie allein verbringt, von unschätzbarem Wert.
Eine Sache in aller Ruhe noch einmal zu durchdenken kann dazu beitragen, daß jemand einen richtigen Lauf einschlägt. „Seid erregt, doch sündigt nicht“, lautet der weise biblische Rat. „Sprecht euch aus in eurem Herzen auf eurem Bett, und bleibt still“ (Psalm 4:4). „In der Tat“, sagt der Psalmist weiter, „während der Nächte haben mich meine Nieren zurechtgewiesen“ (Psalm 16:7). Seine „Nieren“ oder tiefsten Empfindungen haben ihn zurechtgewiesen, als er über gewisse Ereignisse nachdachte.
Jesus Christus, der Gründer des Christentums, schätzte das Alleinsein hoch ein. Als er erfuhr, daß sein Cousin Johannes der Täufer enthauptet worden war, „zog er sich von dort in einem Boot an einen einsamen Ort zurück, um für sich zu sein“ (Matthäus 14:13). Auch in der Nacht vor seinem Tod nahm er sich Zeit, um allein zu beten (Matthäus 26:36-47). Zuvor hatte er seinen Jüngern folgende Anweisung gegeben: „Wenn du betest, geh in deinen Privatraum, und nachdem du deine Tür geschlossen hast, bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist“ (Matthäus 6:6).
Ausgeglichenheit erforderlich
So sehr wir auch das Alleinsein benötigen, es bringt Probleme mit sich, wenn es überbetont wird. „Sowohl zuviel als auch zuwenig Privatsphäre“, so die Encyclopedia Americana, „kann Ungleichgewichte erzeugen, die das Wohlergehen des einzelnen ernstlich gefährden.“ Wie ist das möglich?
In Kanada wurde ein 60 Zentimeter hoher Zaun um ein Grundstück durch eine 1,80 Meter hohe Einfriedung ersetzt, um die Privatsphäre zu sichern. Die Folge: Die guten nachbarlichen Beziehungen wurden gestört. In einem anderen, extremeren Fall zog eine Familie in die Wildnis, um sich von allen anderen Menschen abzusondern. Das Ehepaar ließ seine Kinder durch Fernkurse unterrichten. Traurigerweise ging das Paar auseinander, und die Kinder hatten darunter zu leiden, daß sie kaum dazu ausgerüstet worden waren, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Die Entscheidung, sich von anderen abzusondern, ist unklug. Wir Menschen brauchen einander. Jeder von uns benötigt Kraft und Hilfe, etwas, was andere uns geben können. „Wer sich absondert, wird nach seinem eigenen selbstsüchtigen Verlangen trachten; gegen alle praktische Weisheit wird er losbrechen“ (Sprüche 18:1).
Jesus bekundete in dieser Hinsicht eine vorbildliche Ausgeglichenheit. Nach einer Zeit besonderer Anstrengungen berücksichtigte er das Bedürfnis seiner Jünger, allein zu sein, und sagte zu ihnen: „Kommt für euch allein an einen einsamen Ort, und ruht ein wenig aus.“ Aber die Volksmengen eilten ihnen voraus und warteten bei ihrer Ankunft auf sie. Wie reagierte Jesus? „Doch ergriff ihn Mitleid mit ihnen, denn sie waren wie Schafe ohne einen Hirten. Und er fing an, sie viele Dinge zu lehren.“ Für Jesus war es vorrangig, anderen zu helfen (Markus 6:31-34).
Die Privatsphäre anderer muß respektiert werden
Die Sorge um andere hat jedoch ihre Grenzen. Ein sanftes Plätschern der Wellen an der Küste ist wohltuend, tosende Wellen können dagegen verheerend sein. An anderen interessiert zu sein ist gut, seine Nase in anderer Leute Privatangelegenheiten zu stecken kann indes ein friedliches Verhältnis zerstören. Die Bibel rät daher: „Mache deinen Fuß selten im Haus deines Mitmenschen, damit er von dir nicht genug bekommt und dich gewißlich haßt“ (Sprüche 25:17).
Ein gelegentlicher Besuch kann mit dem wohltuenden Geplätscher von Wellen verglichen werden, es damit aber zu übertreiben kann bewirken, daß der Besuchte einen psychologischen Wellenbrecher aufbaut, um die unablässigen Besuchswellen fernzuhalten. Die wüste Einöde dauernder belangloser Besuche ist ein Nährboden für Geschwätz und Gerüchte. Wer von anderen erwartet, daß sie seine Privatsphäre respektieren, muß auch deren Privatsphäre achten, indem er sich von zu persönlichen Fragen und von Geschwätz zurückhält, das als kränkend empfunden werden könnte.
„Möge niemand von euch als ... jemand leiden, der sich in die Sachen anderer Leute einmischt“, rät die Bibel (1. Petrus 4:15). Ein gebildeter Christ nahm auf das gleiche Problem im ersten Jahrhundert Bezug, als er schrieb: „Zugleich lernen sie auch, unbeschäftigt zu sein, indem sie in den Häusern umherlaufen, ja nicht nur unbeschäftigt, sondern auch Schwätzer und solche, die sich in die Angelegenheiten anderer Leute einmischen und Dinge reden, die sich nicht gehören“ (1. Timotheus 5:13).
Welche Zukunft hat die Privatsphäre?
„Einsamkeit, ein Plätzchen in der Dunkelheit. Selbst Gott soll mich vergessen“, schrieb der englische Dichter Robert Browning. Die absolute Abschirmung des privaten Bereichs ist allerdings eine Illusion. Im Orient kennt man den alten Spruch: „Der Himmel weiß es, die Erde weiß es, ich weiß es, und du weißt es.“ Der christliche Apostel Paulus schrieb: „Alle Dinge sind nackt und bloßgelegt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft zu geben haben“ (Hebräer 4:13).
Statt von Gott vergessen werden zu wollen, sind wir glücklich, daß er an uns interessiert ist. Da er der Quell unseres Lebens ist, würden wir das Leben verlieren, wenn er uns vergäße (Psalm 36:9; 73:27, 28). Doch Jehovas Interesse an uns ist nicht aufdringlich; er verfolgt nicht jede unserer Bewegungen in der Absicht, einen Fehler zu finden. „Er hat uns selbst nicht nach unseren Sünden getan“, heißt es in seinem Wort, „noch hat er nach unseren Vergehungen das auf uns gebracht, was wir verdienen. Wie ein Vater seinen Söhnen Barmherzigkeit erweist, hat Jehova denen Barmherzigkeit erwiesen, die ihn fürchten“ (Psalm 103:10, 13).
Wie angenehm es doch ist, wenn auch Angehörige und Freunde liebevolles Interesse an uns haben und uns gleichzeitig ein gewisses Maß an Privatsphäre gewähren. Sich seiner Privatsphäre in ausgeglichenem Maße erfreuen zu können ist sicher wünschenswert.
Unter dem von Gott verheißenen Königreich, dessen König Jesus Christus ist, werden sich alle Menschen umeinander kümmern (Daniel 2:44; Offenbarung 21:4). Gleichzeitig werden sie das Bedürfnis anderer anerkennen, gelegentlich allein zu sein, um zu studieren, nachzudenken und zu beten. Dann wird völlig verwirklicht werden, was der Prophet Micha vorhersagte: „Sie werden tatsächlich sitzen, ein jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum, und da wird niemand sein, der sie aufschreckt; denn der Mund Jehovas der Heerscharen selbst hat es geredet“ (Micha 4:4).
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‘Möge niemand von euch als jemand leiden, der sich in die Sachen anderer Leute einmischt’
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Die Zeit, in der man sich seiner Privatsphäre in ausgeglichenem Maße erfreuen kann, steht kurz bevor
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