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Von der Urmutter Erde zur FruchtbarkeitsgöttinDer Wachtturm 1991 | 1. Juli
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Das babylonische Vorbild
Hauptgöttin des babylonischen Pantheons war Ischtar, die der sumerischen Fruchtbarkeitsgöttin Inanna entsprach. Paradoxerweise war sie sowohl die Göttin des Krieges als auch die Göttin der Liebe und der Wollust. Der französische Gelehrte Édouard Dhorme sagt in seinem Buch Les Religions de Babylonie et d’Assyrie (Die Religionen Babyloniens und Assyriens) folgendes über Ischtar: „Sie war die Göttin, die Herrin, die barmherzige Mutter, die Gebete erhörte und die bei den zornigen Göttern Fürbitte einlegte, um sie zu besänftigen. ... Man erhöhte sie über alle anderen, machte sie zur Göttin der Göttinnen, zur Königin aller Götter, zur Beherrscherin der Götter des Himmels und der Erde.“
Die Anbeter Ischtars riefen sie als die „Jungfrau“, die „heilige Jungfrau“ und die „Jungfrau-Mutter“ an. Das alte sumerisch-akkadische „Klagelied an Ištar [Ischtar]“ lautet: „Ich flehe dich an, Herrin der Herrinnen, Göttin der Göttinnen, Ištar, Königin aller Wohnstätten ... Du verfügst über alle Kulte, mit Herrscherkrone geschmückt. ... Heiligtümer, Tempel, Göttersitze und Kapellen harren auf dich. ... Wo sind deine Bilder nicht gezeichnet ...? Sieh mich an, meine Herrin, nimm an mein Flehen.“a
Der Muttergöttinnenkult breitet sich aus
Der Orientalist Édouard Dhorme spricht von der „Ausbreitung des Ischtar-Kults“. Dieser breitete sich in ganz Mesopotamien aus, und Ischtar selbst oder Göttinnen mit anderen Namen, aber ähnlichen Merkmalen wurden in Ägypten, Phönizien und Kanaan sowie in Anatolien (Kleinasien), Griechenland und Italien angebetet.
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Von der Urmutter Erde zur FruchtbarkeitsgöttinDer Wachtturm 1991 | 1. Juli
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Im Mittelpunkt des Muttergöttinnenkults in Phönizien und Kanaan stand Aschtoret oder Astarte, die man als Gemahlin Baals betrachtete. Wie Ischtar, ihr babylonisches Gegenstück, war sie sowohl Fruchtbarkeits- als auch Kriegsgöttin. Man hat in Ägypten alte Inschriften gefunden, in denen Astarte als Gebieterin des Himmels und als Himmelskönigin bezeichnet wird. Die Israeliten mußten einen ständigen Kampf gegen den verderblichen Einfluß führen, der vom Kult dieser Fruchtbarkeitsgöttin ausging.
Ischtars anatolisches Gegenstück hieß Kybele, die als die Große Göttermutter bekannt war. Man nannte sie auch die Allgebärende, die Allernährerin, die Allmutter. Von Anatolien gelangte der Kult der Kybele zuerst nach Griechenland und dann nach Rom, wo er bis in die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung überdauerte. Wilde Tänze gehörten zur Anbetung dieser Fruchtbarkeitsgöttin, deren Priester sich selbst blutige Wunden zufügten; Anwärter auf die Priesterschaft entmannten sich selbst, und man veranstaltete Prozessionen, in denen die Statue der Göttin mit großem Pomp umhergetragen wurde.b
In der Frühzeit beteten die Griechen eine Erdmuttergöttin namens Gäa an. Aber in den Pantheon dieses Volkes fanden auch Göttinnen Eingang, die Ischtar ähnelten, beispielsweise Aphrodite, die Göttin der Fruchtbarkeit und der Liebe, Athene, die Göttin des Krieges, und Demeter, die Göttin des Ackerbaus.
Venus war die römische Göttin der Liebe, und sie entsprach der griechischen Aphrodite sowie der babylonischen Ischtar. Die Römer beteten allerdings auch die Göttinnen Isis, Kybele und Minerva (griechisch: Athene) an, die jeweils auf die eine oder andere Weise ein Abbild des babylonischen Vorbilds Ischtar waren.
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Von der Urmutter Erde zur FruchtbarkeitsgöttinDer Wachtturm 1991 | 1. Juli
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a Hugo Greßmann, Altorientalische Texte zum Alten Testament, Seite 257, 258.
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Von der Urmutter Erde zur FruchtbarkeitsgöttinDer Wachtturm 1991 | 1. Juli
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[Bild auf Seite 3]
Die babylonische ISCHTAR als Stern verkörpert
[Bildnachweis]
Mit freundlicher Genehmigung des Britischen Museums
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