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Gefangen in einer „Goldenen Träne“Erwachet! 2002 | 22. September
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Gefangen in einer „Goldenen Träne“
VON EINEM ERWACHET!-MITARBEITER IN DER DOMINIKANISCHEN REPUBLIK
EINE Ameise huscht über einen Baumstamm, nicht ahnend, dass sie geradewegs in ihr Unglück läuft. Plötzlich bleibt sie mit einem Bein kleben, dann mit noch einem, bis sie schließlich in dem honigartigen Harz festsitzt. Ein weiterer goldener Tropfen fließt herunter und umhüllt die Ameise ganz. Die Flucht wird vollends unmöglich. Irgendwann fällt die klebrige Masse mit der Ameise zu Boden. Der Regen spült die gefangene Ameise in einen Fluss, wo sie im Schlamm versinkt. Tausende von Jahren später wird die Ameise entdeckt — einwandfrei konserviert in einer „goldenen Träne“. Das Harz ist ausgehärtet und zu Bernstein geworden — einer der wertvollsten Schätze der Menschen.
Was weiß man über Bernstein? Können Bernstein und darin eingeschlossene Insekten uns etwas über die ferne Vergangenheit verraten? Ist es denkbar, längst ausgestorbene Lebensformen mit ihrer Hilfe wiederzuerschaffen?
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Gefangen in einer „Goldenen Träne“Erwachet! 2002 | 22. September
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Wie bildet sich Bernstein? Zunächst muss die Rinde des Baumes irgendwie verletzt werden — sei es durch das Abbrechen eines Astes, durch einen Schnitt am Stamm oder indem der Baum von Käfern angebohrt wird. Daraufhin dringt dickflüssiges Harz an die Oberfläche, um die Wunde zu verschließen. Falls Insekten oder andere kleine Tiere das Pech haben, am Harz kleben zu bleiben, werden sie schließlich vollständig davon umschlossen. Im Gegensatz zu Baumsaft, der aus Wasser und Nährstoffen besteht, ist das Baumharz aus Terpenverbindungen, Alkoholen und Estern zusammengesetzt. Offenbar wirken diese chemischen Bestandteile trocknend und antibiotisch. Eingeschlossene Insekten und Pflanzen werden regelrecht einbalsamiert. Unter den entsprechenden Umweltbedingungen härtet das Harz langsam und wird so zu Bernstein, in dem die Einschlüsse Jahrtausende unversehrt überdauern. Bernstein ist also fossilisiertes Baumharz.
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Gefangen in einer „Goldenen Träne“Erwachet! 2002 | 22. September
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Er sucht nach Inklusen — fossilisierte Wirbeltiere, Insekten oder anderes organisches Material, das eventuell im Bernstein eingeschlossen ist. In vielleicht einem von hundert Stück dominikanischem Bernstein sind Insekten zu sehen, was jedoch nur bei jedem tausendsten Stück baltischem Bernstein der Fall ist.
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Gefangen in einer „Goldenen Träne“Erwachet! 2002 | 22. September
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Der Wald früherer Zeiten
Dank seiner einzigartigen Eigenschaften hat Bernstein zusammen mit seinen „Gefangenen“ das üppige tropische Ökosystem überlebt, aus dem er stammt. Bei den meisten Fossilien ist das organische Material versteinert, wobei die ursprünglichen Strukturen durch Mineralien ersetzt wurden. Bernstein hingegen ist selbst ein organisches Material, genau wie die Pflanzen oder Tiere, die darin eingeschlossen sein mögen. Im Fall von transparentem Bernstein kann man die darin enthaltenen Schätze aus alter Zeit untersuchen und von allen Seiten fotografieren, ohne sie zu beschädigen. Daher hat man Bernstein auch als ein „goldenes Fenster in die Vergangenheit“ bezeichnet; er ermöglicht sowohl einen Blick auf Insekten und kleine Wirbeltiere als auch auf Pflanzen und auf Klimaverhältnisse längst vergangener Ökosysteme.
Welche Inklusen sind am wertvollsten? Das hängt oft von der Ansicht des Sammlers ab. Einige der teuersten Stücke enthalten Einschlüsse, die von Bernsteinfans als die drei Schätze bezeichnet werden: Skorpione, Eidechsen und Frösche. Da diese Tiere größer und stärker sind als viele Insekten, konnten sich die meisten von ihnen problemlos selbst befreien, wenn sie einmal in das Harz geraten waren. Die Tiere, die nicht entkommen konnten, waren in der Regel sehr klein oder durch Krankheit geschwächt oder sie waren vorher von einem Räuber verletzt worden. Wie rar sind solche Funde? Äußerst rar! Ein Sammler schätzt, dass bisher lediglich 30 bis 40 Skorpione, 10 bis 20 Eidechsen und 8 oder 9 Frösche entdeckt wurden. Derartige Fundstücke sind in der Tat sehr wertvoll. 1997 wurde ein Stück dominikanischer Bernstein gefunden, in dem ein Frosch eingeschlossen ist; der Wert dieses Fundstücks beträgt weit mehr als 50 000 Euro.
Doch für einige Wissenschaftler sind andere Einschlüsse noch weitaus faszinierender. Da Insekten oft sozusagen im Handumdrehen in die Falle gerieten, enthalten viele Bernsteinstücke „Schnappschüsse“ aus der Frühzeit. So lassen sich Hinweise auf das Verhalten von Insekten, beispielsweise von Räubern und ihrer Beute, beobachten. Einige Fundstücke, die Eier, schlüpfende Larven, Spinnenkokons mit Embryos oder frisch geschlüpfte Spinnen enthalten, ermöglichen es Wissenschaftlern, die verschiedenen Stadien der Insektenentwicklung zu erforschen. Ein Stück Bernstein, das in einem Stuttgarter Museum aufbewahrt wird, enthält eine alte Ameisenkolonie mit etwa 2 000 Tieren.
Auf ähnliche Weise kann man aus den Einschlüssen auch Informationen über die Pflanzen frühzeitlicher Wälder gewinnen. Blüten, Pilze, Moos, Blätter und Samen, die im Bernstein erhalten geblieben sind, haben es ermöglicht, viele Pflanzen der Frühzeit einschließlich Bäumen zu bestimmen. Außerdem sind sich Wissenschaftler ziemlich sicher, dass es damals auch Feigenbäume gab, obwohl von ihnen niemals Blätter oder Zweige gefunden wurden. Warum? Weil man in Bernstein mehrere Wespenarten entdeckt hat, von denen bekannt ist, dass sie nur in Feigen leben. Deshalb ist es nahe liegend, anzunehmen, dass in diesen Wäldern auch Feigenbäume wuchsen.
Vergangenes Leben reproduzieren?
Vor einigen Jahren basierte ein erfolgreicher Kinofilm auf der Idee, dass man Dinosaurier mithilfe ihrer DNS aus Dinosaurierblut wiedererschaffen könnte, das man einer in Bernstein eingeschlossenen Mücke entnommen hatte. Viele Wissenschaftler bezweifeln, dass das wirklich machbar ist. Jedes Lebewesen besitzt seine eigene DNS mit verschlüsselten Anweisungen, die seine Erbmerkmale bestimmen. Bei wissenschaftlichen Experimenten konnten zwar winzige DNS-Fragmente einiger in Bernstein eingeschlossener Insekten und Pflanzen extrahiert werden, doch diese Experimente haben nichts mit der Wiedererschaffung ausgestorbener Geschöpfe zu tun.
Außerdem ist die zurückgewonnene DNS nicht nur beschädigt, sondern auch unvollständig. Laut einer Schätzung machen die Bruchstücke, die sich zurückgewinnen lassen, vielleicht weniger als ein Millionstel der gesamten Information aus, die im genetischen Code eines Organismus enthalten ist. Solch einen Code vollständig wiederherzustellen wurde einmal mit der Aufgabe verglichen, ein mehrere tausend Seiten dickes Buch aus einem einzigen bruchstückhaften Satz zu rekonstruieren.a
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