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Jehovas Zeugen — Jahrbuchbericht 1991Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1991
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Kongresse machen Geschichte
Als am 1. Juli 1990 die Grenzkontrollen zwischen der DDR und Westdeutschland wegfielen, lautete die Überschrift einer deutschen Zeitung: „Was sich am Sonntag an der Grenze abspielte, kann das bloße Auge oder der bloße Verstand kaum fassen“. Ähnlich empfanden die etwa 30 000 Besucher aus der DDR, die an dem besonderen internationalen Kongreß „Reine Sprache“ vom 24. bis 27. Juli im Olympia-Stadion in West-Berlin teilnahmen. Rund 45 000 Delegierte aus 64 Ländern, zu denen auch sieben Mitglieder der leitenden Körperschaft gehörten, erlebten theokratische Geschichte.
Ein Zeuge aus der DDR bemerkte: „Nach dem Aufheben des Verbotes ein großes Fest der Einheit, der Liebe, der Harmonie — ein Beweis, daß es sich gelohnt hat, 40 Jahre illegal tätig gewesen zu sein.“
Dieser Kongreß war besonders zum Nutzen der Brüder aus der DDR organisiert worden, und sie nahmen die Einladung begeistert und erwartungsvoll an. Zeugen aus Dresden hatten 16 000 Blumen gepflanzt, die genau zur rechten Zeit blühten und die beiden Kongreßbühnen verschönten. Auf der einen wurde das Programm in Deutsch und auf der anderen in Englisch dargeboten.
Die DDR-Behörden stellten 13 Sonderzüge zur Verfügung, mit denen 9 500 Zeugen Jehovas nach West-Berlin reisten, und auf allen Bahnhöfen in Ost-Berlin wurden die Delegierten von der Reichsbahn über Lautsprecher willkommen geheißen. Zusätzlich mieteten die Versammlungen 200 Busse. Dank der Gastfreundschaft der Brüder und ihrer fleißigen Suche nach Privatunterkünften sowie dem Entgegenkommen der Behörden in Ost und West, die Schulen zur Verfügung stellten, konnten alle Besucher untergebracht werden.
Ein Delegierter aus Westdeutschland bemerkte: „Wir erlebten, daß die Brüder aus der DDR außergewöhnlich herzlich und gastfreundlich sind. Unser Gastgeber gewährte Unterkunft für 22 Erwachsene und sechs Kinder. Dadurch wurde aus seinem Haus eine Miniaturmassenunterkunft. Und er beschaffte für andere zusätzliche Unterkünfte in der Nachbarschaft.“ Ein Ehepaar in Ost-Berlin beherbergte in seiner 2-Zimmer-Wohnung und in vier Zelten im Hinterhof vor dem Kongreß und während des Kongresses 26 Besucher.
Was machte den Kongreß für die ostdeutschen Zeugen zu etwas Besonderem? Viele konnten erstmals gemeinsam mit ihrer Heimatversammlung einen Kongreß besuchen. Andere waren beeindruckt vom gemeinsamen Singen der Königreichslieder oder empfanden das Wiedersehen mit alten Freunden als Höhepunkt. Die dargebotene geistige Speise und die freigegebene Literatur wurden mit großer Dankbarkeit aufgenommen.
Die Ansprachen von Ältesten aus der DDR, die ihren Brüdern seit vielen Jahren mutig dienen, wurden ebenfalls sehr geschätzt. „Als der erste Bruder aus der DDR auf der Bühne stand und mit uns den Tagestext besprach, war es ein unbeschreibliches Gefühl für mich, da ich wußte, was er alles in den Jahren des Verbots auf sich genommen hatte“, erzählte ein Zeuge.
Nach der Taufansprache boten die 1 018 Taufanwärter ein Bild, das jemand als einen „Höhepunkt der Freude“ bezeichnete. 19 Minuten lang applaudierte man im Stadion, als die Täuflinge hinausgeleitet wurden, wobei sie den Anwesenden zuwinkten. Viele Zuschauer hatten vor Rührung und Freude Tränen in den Augen. Ein Zeuge bemerkte: „Ereignisse wie dieses hatten wir bislang nur in der Literatur oder bei Lichtbildervorträgen sehen können.“ Andere ostdeutsche Brüder erinnerten sich an ihre eigene Taufe, die wegen des Verbots in einer Badewanne durchgeführt werden mußte.
Die Liebe und der gute Geist waren auch außerhalb des Stadions spürbar und wurden von Außenstehenden bemerkt. Der Verkehrsbezirksleiter der BVG (Berliner Verkehrsbetriebe) sagte: „Ich mache schon 20 Jahre Veranstaltungen mit, aber eine solche Höflichkeit, Zurückhaltung und Rücksichtnahme habe ich noch nie beobachtet.“ Ein BVG-Koordinator erklärte: „Ich wünschte mir oft solche angenehmen Fahrgäste. Kommen Sie bald wieder!“
In der Schlußansprache dankte Bruder M. G. Henschel nicht nur der Westberliner Polizei, sondern auch der Polizei in Ost-Berlin für ihre Mithilfe bei der Verkehrsregelung. Für viele eine unglaubliche Geste, wenn man an die Zeit des Verbots zurückdenkt! Ein Bruder aus Dresden faßte die Gefühle der Delegierten aus der DDR zusammen: „Dieses Ereignis war so schön, daß ich mich selbst bei der Frage ertappt habe: Träume ich das bloß, oder ist das wirklich wahr? Es war ein kleiner Vorgeschmack von der neuen Welt.“
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[Bilder auf Seite 20]
Olympiastadion, Berlin
Zeugen aus der DDR pflanzten 16 000 Blumen, um den Kongreß zu verschönen
Brüder, die einst in der DDR im Gefängnis saßen, treffen sich auf dem Kongreß
[Bilder auf Seite 21]
Der Kongreß „Reine Sprache“ vom 24. bis 27. Juli 1990 in Berlin war nach 40 Jahren der erste, auf dem sich Zeugen aus der DDR frei versammeln konnten. Die Gesamtzahl der Zuhörer betrug 44 532.
Redner aus der DDR waren rege am Programm beteiligt
[Bilder auf Seite 22]
Alle Delegierten aus der DDR erhielten Exemplare der Kongreßveröffentlichungen „Wie kann Blut dein Leben retten?“ und „Die Suche der Menschheit nach Gott“ als Geschenk
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