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DeutschlandJahrbuch der Zeugen Jehovas 1999
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Reorganisiert, um die Bruderschaft zu stärken
In der Zeit, als die kommunistischen Machthaber in ihrer Einflußsphäre alles daransetzten, die Zeugen von ihren Mitgläubigen in anderen Ländern zu isolieren, kam es weltweit in der Organisation der Zeugen Jehovas zu bedeutsamen Veränderungen. Das geschah in dem Bemühen, sich enger an das zu halten, was die Bibel über die Christenversammlung des 1. Jahrhunderts sagt, und diente dazu, die internationale Bruderschaft zu stärken und die Organisation auf das rapide Wachstum der künftigen Jahre vorzubereiten. (Vergleiche Apostelgeschichte 20:17, 28.)
So wurden vom Oktober 1972 an die Versammlungen nicht mehr von einer einzigen Person, dem Versammlungsdiener, beaufsichtigt, der sich mit Unterstützung von Gehilfen der notwendigen Arbeiten annahm. Statt dessen wurde in jeder Versammlung eine Ältestenschaft mit der Aufsicht betraut. 1975 zeichneten sich bereits gute Ergebnisse dieser Neuerung ab.
Der Wechsel wurde indessen nicht von allen begrüßt, wie Erwin Herzig, ein langjähriger reisender Aufseher, zu berichten weiß. Dadurch „wurde das Herz einiger Versammlungsdiener offenbar“, sagt er. Die große Mehrheit war loyal, aber durch die Neuerung wurden die wenigen ausgesiebt, die ehrgeizig waren und lieber die „Nummer eins“ sein wollten, als ihren Brüdern zu dienen.
Es bahnten sich noch mehr Veränderungen an. In den 70er Jahren wurde die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas vergrößert und dann neu organisiert, so daß die Arbeit auf 6 Komitees verteilt wurde, die ihre Tätigkeit am 1. Januar 1976 aufnahmen. Einen Monat darauf, am 1. Februar 1976, wurde die Aufsicht über die Zweigbüros auf der ganzen Erde neu geregelt. Jetzt war nicht mehr ein einziger Zweigdiener für ein Zweigbüro zuständig, sondern jeder Zweig unterstand einem von der leitenden Körperschaft bestimmten Zweigkomitee.
Bruder Frost, Bruder Franke und Bruder Kelsey waren alle eine Zeitlang als Zweigdiener in Deutschland eingesetzt. Bruder Frost sah sich veranlaßt, das Bethel aus gesundheitlichen Gründen zu verlassen. (Er starb 1987 im Alter von 86 Jahren. Sein Lebensbericht steht im Wachtturm vom 1. September 1961.) Als 1976 in Deutschland ein 5köpfiges Zweigkomitee gebildet wurde, gehörten sowohl Konrad Franke dazu (der in der NS-Zeit mehrmals inhaftiert war) als auch Richard Kelsey (ein Gileadabsolvent, der damals bereits 25 Jahre in Deutschland gedient hatte). Die übrigen waren Willi Pohl (ein KZ-Überlebender, der die 15. Klasse der Gileadschule besucht hatte), Günter Künz (ein Gileadabsolvent der 37. Klasse) und Werner Rudtke (ein ehemaliger reisender Aufseher).
Diese ursprünglichen Mitglieder dienen mit Ausnahme von Bruder Franke, der 1983 starb, noch immer im Zweigkomitee. (Konrad Frankes Lebensbericht ist im Wachtturm vom 1. Juni 1963 erschienen.) Zwei weitere Brüder gehörten vor ihrem Tod einige Zeit zum Zweigkomitee: Egon Peter von 1978 bis 1989 und Wolfgang Krolop von 1989 bis 1992.
Gegenwärtig setzt sich das Zweigkomitee aus 8 Mitgliedern zusammen. Zu den bereits erwähnten kamen außerdem Edmund Anstadt (seit 1978) und Peter Mitrega (seit 1989) hinzu sowie Eberhard Fabian und Ramon Templeton (seit 1992).
Als 1976 die Neuerung in der Zweigaufsicht wirksam wurde, gab es in Wiesbaden nur 187 Bethelmitarbeiter. Seither ist die Bethelfamilie auf 1 134 angewachsen, und es sind 30 Nationalitäten vertreten. Das spiegelt in gewissem Maß die Internationalität des Werkes wider, mit dem das Zweigbüro betraut ist.
Eine Druckerei für den expandierenden Bedarf
Mitte der 70er Jahre lag der deutsche Zweigkomplex in dem Wiesbadener Stadtteil Kohlheck — einst ein verschlafener Vorort am Waldrand, aber inzwischen ein schnell wachsender Stadtteil. Die Gesellschaft hatte ihre Gebäude in dieser Gegend schon 13mal vergrößert. Aber nun war die Zahl der Königreichsverkündiger in der Bundesrepublik auf rund 100 000 angestiegen. Man brauchte ein größeres Büro, um das Gebiet zu beaufsichtigen. Es war eine geräumigere Druckerei erforderlich, um biblische Literatur bereitstellen zu können. Noch mehr Land für eine Erweiterung zu erhalten gestaltete sich äußerst schwierig. Wie war das Problem zu lösen? Das Zweigkomitee betete zu Jehova um Leitung.
Ende 1977 erwogen die Mitglieder des neu eingesetzten Zweigkomitees die Möglichkeit, woanders ein neues Bethelheim zu bauen. War das aber wirklich notwendig? Die Grundstimmung ging in die Richtung, daß das Ende des alten Systems vor der Tür stehen müsse. Doch es war noch ein anderer Faktor zu berücksichtigen. Neue Druckmethoden kamen auf, und die Gesellschaft sah sich gezwungen, sie zu übernehmen, wenn sie in der verbleibenden Zeit des alten Systems weiter im großen Stil drucken wollte. Interessanterweise erleichterten es die Erfahrungen, die man durch das Verbot der Zeugen Jehovas in der DDR gewonnen hatte, den Brüdern in Wiesbaden, Veränderungen vorzunehmen, sowie sich die Notwendigkeit dafür ergab. Weshalb?
Der Beschluß, zum Offsetdruck überzugehen
Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 wurde es zusehends schwieriger, die Zeugen Jehovas in der DDR mit Literatur zu versorgen. Um die Sache zu erleichtern, stellte man für sie eine Sonderausgabe des Wachtturms in kleinerem Format her. Sie enthielt nur die Studienartikel. Für diese Ausgabe mußten die Artikel ein zweites Mal gesetzt werden. Das Drucken auf extradünnem Papier war problematisch wie auch das Falzen der Druckbogen. Als man auf eine geeignete automatische Falzmaschine stieß, stellte sich heraus, daß sie in Leipzig gebaut worden war, paradoxerweise also in der DDR, wo Jehovas Zeugen verboten waren und wo diese weniger auffälligen Ausgaben des Wachtturms hingeschafft werden sollten.
Ein Bruder, der vor seinem Betheldienst den Offsetdruck erlernt hatte, schlug zur Vereinfachung vor, die Zeitschriften mit diesem Verfahren zu reproduzieren. Man könnte die Studienartikel fotografieren, verkleinern und dann auf einer Offsetplatte belichten. Der Zweig erhielt eine kleine Bogenoffsetmaschine als Geschenk. Mit der Zeit ergab sich die Möglichkeit, nicht nur die Studienartikel, sondern die ganze Zeitschrift zu drucken — zunächst schwarzweiß und schließlich im Vierfarbendruck. Auf diese Art und Weise produzierte man auch Bücher im Kleinformat.
Nathan Knorr, damals Präsident der Watch Tower Society, besuchte 1975 Wiesbaden und beobachtete das Verfahren mit Interesse. „Nicht schlecht“, meinte er, nachdem er sich die Druckerzeugnisse genau angesehen hatte. Auf die Erklärung, es handele sich um eine Sonderausgabe für die DDR und man sei mit dem neuen Produktionsverfahren zufrieden, erwiderte er: „Brüder, die so viel durchmachen, verdienen das Beste, was wir ihnen geben können.“ Er genehmigte sofort den Kauf zusätzlicher Maschinen.
Als 1977 Grant Suiter von der leitenden Körperschaft Deutschland einen Besuch abstattete und erwähnte, die Gesellschaft erwäge schon lange ernsthaft, auf Offsetdruck umzustellen, und habe nun beschlossen, dies im großen Stil zu tun, verfügte man in Wiesbaden bereits über gewisse Erfahrungen damit. Indirekt hatte das Verbot in der DDR die Brüder auf diesen Wechsel vorbereitet.
Es ging allerdings nicht nur darum, sich mit dem Gedanken anzufreunden, daß neue Druckmethoden erforderlich waren. Bruder Suiter erklärte, man brauche auch größere und schwerere Druckmaschinen. Aber wo sollte man sie hinstellen? Vom Vierfarbendruck mit Rollenoffsetmaschinen zu träumen war eine Sache, den Traum in die Realität umzusetzen war etwas ganz anderes. Man untersuchte mehrere Möglichkeiten für eine Erweiterung am Kohlheck, aber alles erwies sich als schwierig. Was nun?
Ein neuer Zweigkomplex
Man machte sich anderweitig auf die Suche nach einem Grundstück. Am 30. Juli 1978 wurden rund 50 000 Zeugen Jehovas, die sich zu einem Kongreß in Düsseldorf versammelt hatten, und fast 60 000 in München mit der Nachricht überrascht, daß man plante, ein Grundstück für den Bau eines ganz neuen Zweigkomplexes zu erwerben.
Im Verlauf von fast einem Jahr wurden 123 Gelände inspiziert. Letztlich fiel die Wahl auf ein Grundstück, das auf einer Anhöhe über dem Dorf Selters lag. Mit Zustimmung der leitenden Körperschaft wurde der Kauf am 9. März 1979 abgeschlossen. Nach Verhandlungen mit 18 Grundstücksbesitzern erwarb man weitere 65 angrenzende Parzellen, so daß 30 Hektar Bauland zur Verfügung standen. Etwa 40 Kilometer nördlich von Wiesbaden gelegen, ist Selters leicht für Lkws zu erreichen. Der internationale Flughafen Frankfurt Rhein-Main liegt zirka 60 Kilometer entfernt.
Das größte Bauprojekt in der Geschichte der Zeugen Jehovas in Deutschland konnte losgehen. War man der Aufgabe aber gewachsen? Rolf Neufert, der zum Baukomitee gehörte, erinnert sich: „Keiner außer einem Bruder, der Architekt ist, hatte je an einem so riesigen Projekt gearbeitet. Die Schwierigkeiten eines solchen Auftrags sind kaum vorstellbar. Normalerweise würde sich nur ein Büro mit langjähriger Erfahrung und den notwendigen Fachleuten an ein so großes und kompliziertes Projekt heranwagen.“ Wenn es jedoch Jehovas Wille war, daß gebaut wurde, so überlegte man, dann würde er auch den Ablauf segnen.
Es mußten 40 verschiedene Baugenehmigungen eingeholt werden, doch die Behörden zeigten sich kooperativ, was sehr geschätzt wurde. Nun ja, anfangs regte sich ein wenig Widerstand, aber der kam hauptsächlich von Geistlichen, die in dem vergeblichen Bemühen, Opposition zu entfachen, Versammlungen einberiefen.
Zeugen Jehovas aus dem ganzen Land meldeten sich freiwillig zur Mitarbeit. Sie gingen mit außergewöhnlichem Elan ans Werk. Im Schnitt waren täglich 400 ständige Mitarbeiter am Bau beschäftigt, unterstützt von annähernd 200 „Ferienmitarbeitern“. In den 4 Jahren Bauzeit halfen sage und schreibe 15 000 verschiedene Zeugen Jehovas freiwillig mit.
Ein Bruder erzählt: „Egal, welches Wetter, egal, welche Schwierigkeiten vorhanden waren, ob warm oder kalt oder ganz kalt, es ging immer vorwärts. Wo andere ihre Tätigkeit eingestellt hatten, ging es bei uns erst richtig los.“
Auch aus anderen Ländern trafen Helfer ein. Für Jack und Nora Smith und ihre 15jährige Tochter Becky war der Tausende von Kilometern lange Weg von Oregon in den Vereinigten Staaten nicht zu weit. Sie waren bei dem internationalen Kongreß in München anwesend, als bekanntgegeben wurde, daß die Gesellschaft vorhatte, in Deutschland neue Zweiggebäude zu errichten. „Was für ein Vorrecht wäre es doch, beim Bau eines Bethels mithelfen zu können!“ sagten sie sich. Sie gaben Bescheid, daß sie zur Verfügung standen. Jack berichtet: „Wir hatten 1979 gerade mit Vorkongreßarbeiten zu tun, da erhielten wir ein Bewerbungsformular und die Einladung, so schnell wie möglich zu kommen. Wir waren so aufgeregt, daß wir uns bei der Arbeit und beim Kongreß kaum konzentrieren konnten.“
Zur Unterbringung der Baumitarbeiter mußten bereits bestehende Gebäude umgebaut werden. Im Winter 1979/80 war das erste Wohnhaus fertig. Im September 1980 war das Fundament für ein neues Bethelheim gelegt. Auch die Druckerei nahm man in Angriff, und dafür war es höchste Zeit. Die im Januar 1978 bestellte 27 Meter lange Rollenoffsetmaschine sollte 1982 geliefert werden. Bis dahin mußte die Druckerei wenigstens teilweise fertiggestellt sein.
Es war möglich, das meiste in Eigenarbeit zu leisten. Ein Bruder staunt heute noch: „Wir alle hatten keine Erfahrung, ein so großes Projekt mit fast ständig wechselnden Mitarbeitern zu erstellen. Oft glaubten wir, daß auf diesem oder jenem Gebiet Stockungen eintreten würden, weil uns Facharbeiter für spezielle Fachbereiche fehlten. Aber oft war es so, daß im letzten Augenblick ganz plötzlich die Bewerbungen von Brüdern eingingen, die auf bestimmten Gebieten große Erfahrung hatten. Die Brüder kamen so, wie wir sie benötigten.“ Man dankte Jehova für seine Leitung und seinen Segen.
Der Umzug nach Selters
Der Transport der Möbel und der persönlichen Sachen von etwa 200 Bethelmitarbeitern, ganz zu schweigen von all den Maschinen und Ausrüstungsgegenständen, brachte eine Menge Arbeit mit sich. Alles auf einmal erledigen zu wollen wäre zuviel gewesen. Während der Bau Fortschritte machte, siedelte die Bethelfamilie Abteilung für Abteilung nach Selters über.
Die Vorhut bildeten die Mitarbeiter der Druckerei, weil dies der erste fertiggestellte Komplex war. Nach und nach baute man die Maschinen in Wiesbaden ab und transportierte sie nach Selters. Unterdessen kam am 19. Februar 1982 in Selters der Vierfarbendruck mit der neuen Rotationsmaschine ins Rollen. Wenn das kein Grund zum Feiern war! Im Mai wurde es in der Wiesbadener Druckerei still. Nach 34 Jahren gingen dort die Druckarbeiten zu Ende.
Der erste Großauftrag für die neue Offsetdruckmaschine war das Buch Du kannst für immer im Paradies auf Erden leben. Dieses neue Buch sollte auf den Bezirkskongressen 1982 herauskommen, und Deutschland wurde beauftragt, es in 7 Sprachen zu produzieren. Das Problem war, daß die Buchbinderei noch in Wiesbaden stand. Der Umzug war für gut ein Jahr später geplant. So wurden die frisch gedruckten Bogen ruck, zuck mit dem Lkw der Gesellschaft von Selters nach Wiesbaden zum Binden gebracht. Von der Erstauflage in Höhe von 1 348 582 Exemplaren gelang es trotz der zusätzlichen Arbeit, 485 365 Bücher fertigzustellen, so daß sich das internationale Publikum auf Kongressen in mehreren Ländern über die Freigabe freuen konnte.
Verständlicherweise war der Umzug von gemischten Gefühlen begleitet. Für manch einen in der Bethelfamilie war Wiesbaden schon fast 35 Jahre das Zuhause. Aber schon bald gingen die einzelnen Bethelgebäude in Wiesbaden an verschiedene Käufer. Man behielt nur einen kleinen Teil der ehemaligen Buchbinderei, den man zu einem Königreichssaal umbaute. Ganz wie es für die internationale Einheit in Jehovas Volk typisch ist, sind in diesem Saal heute 4 Versammlungen untergebracht — zwei deutsche, eine englische und eine russische.
Die Bestimmungsübergabe
Nachdem das Bethel in Selters seinen letzten Schliff erhalten hatte, fand am 21. April 1984 das Programm zur Bestimmungsübergabe statt. Alle an dem Projekt Beteiligten hatten das starke Empfinden, daß Jehova mit ihnen war. Sie hatten bei ihm Leitung gesucht und ihm gedankt, wenn scheinbar unüberwindliche Hindernisse umgestoßen wurden. Sie hatten nun den greifbaren Beweis, daß sein Segen auf den fertiggestellten Gebäuden ruhte, die bereits zur Förderung der wahren Anbetung eingesetzt wurden (Ps. 127:1). Es war wirklich eine Zeit ganz besonderer Freude.
Zu Beginn der Woche öffneten sich die Türen für Besucher. Verschiedene Behörden, mit denen die Gesellschaft zu tun hatte, waren zu einer Besichtigung des Geländes eingeladen worden. Auch die Nachbarn waren willkommen. Ein Besucher verriet, er habe es seinem Pfarrer zu verdanken, daß er da sei. Der Pfarrer habe in den letzten Jahren so oft auf Jehovas Zeugen geschimpft, daß es die ganze Gemeinde schon nicht mehr hören könne. Am vorigen Sonntag habe er wieder einmal gegen die Zeugen gewettert und die Gemeinde ermahnt, die Einladung zum Tag der offenen Tür nicht anzunehmen. „Ich wußte von der Einladung“, erklärte der Besucher, „aber das Datum hatte ich verschwitzt. Hätte der Pfarrer letzten Sonntag nichts davon gesagt, hätte ich bestimmt nicht mehr dran gedacht.“
Nach den Vorbesichtigungen kam dann endlich der Tag der Bestimmungsübergabe. Als das Programm um 9.20 Uhr mit Musik begann, herrschte große Freude darüber, daß von den damals 14 Mitgliedern der leitenden Körperschaft 13 in der Lage gewesen waren, die Einladung zur Bestimmungsübergabe anzunehmen. Da nicht jeder, der auf die eine oder andere Weise zum Erfolg des Projekts beigetragen hatte, persönlich anwesend sein konnte, schaltete man Standleitungen zu 11 anderen Orten im ganzen Land. So kamen 97 562 Zuhörer in den Genuß des schönen Programms.
Zu denen, die an jenem denkwürdigen Tag in Selters versammelt waren, gehörten viele, die während des 2. Weltkriegs ihren Glauben in Konzentrationslagern unter Beweis gestellt hatten, und einige, die noch nicht lange aus der Haft in der DDR freigekommen waren. Das traf auf Ernst und Hildegard Seliger zu. Bruder Seliger hatte genau 60 Jahre zuvor den Vollzeitdienst aufgenommen. Er und seine Frau hatten unter dem nationalsozialistischen und dem kommunistischen Regime zusammen über 40 Jahre in Gefängnissen und Konzentrationslagern zugebracht. Nach der Bestimmungsübergabe schrieben sie: „Könnt Ihr Euch vorstellen, was wir empfanden, an diesem wunderbaren geistigen Festmahl im geistigen Paradies teilhaben zu dürfen? Von der ersten bis zur letzten Minute dieses herrlichen Programms klang es in unseren Ohren wie eine göttliche Sinfonie theokratischer Einheit und Harmonie.“ (Über Einzelheiten ihrer Glaubensprüfungen berichtet Der Wachtturm vom 15. Oktober 1975.)
Häuser ‘dem Namen Jehovas gebaut’
Die Leute staunen oft, wenn sie sehen, daß Jehovas Zeugen in wenigen Wochen — oder manchmal auch nur Tagen — einen Königreichssaal bauen, daß sie große Kongreßsäle in Freiwilligenarbeit errichten und Bethelkomplexe, die Millionen kosten, mit freiwilligen Spenden finanzieren. Einwohner Deutschlands hatten viele Gelegenheiten, solche Aktivitäten aus nächster Nähe zu beobachten.
Der erste Kongreßsaal in der Bundesrepublik wurde Anfang der 70er Jahre in Westberlin eingeweiht. Weitere folgten, so daß von 1986 an alle westdeutschen Kreiskongresse in eigenen Sälen stattfanden.
Bei diesen Projekten war der Segen Jehovas deutlich zu spüren. In München gelangte man durch die Kooperation der Stadtbehörden an ein äußerst preisgünstiges Grundstück für einen Kongreßsaal. Es grenzt an den landschaftlich schön gestalteten Olympiapark, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht das gigantische Olympiastadion.
Man war sorgsam darauf bedacht, die Kosten für den Bau und die Materialien gering zu halten. Da gerade ein Elektrizitätswerk an eine andere Stelle verlegt wurde, standen Schaltschränke und eine Telefonzentrale zum Verkauf, die man für weniger als 5 Prozent des Neupreises erwarb. Außerdem wurde zur rechten Zeit ein Gebäudekomplex abgerissen, so daß man Waschbecken, Toiletten, Türen, Fenster und Hunderte von Metern Wasser-, Gas- und Lüftungsrohre zu einem annehmbaren Preis erhielt. Gespart wurde auch dadurch, daß man Stühle und Tische selbst herstellte. Wegen landschaftlicher Auflagen der Stadt mußte man auf dem Kongreßsaalgelände 27 Linden pflanzen. Eine Baumschule, die den Betrieb einstellte, hatte gerade die erforderliche Zahl Bäume in exakt der richtigen Höhe, und das zu einem Zehntel des regulären Preises. Nachdem die Stadt München dazu übergegangen war, fast überall das Kopfsteinpflaster zu entfernen, waren Pflastersteine tonnenweise für so gut wie umsonst zu haben. Man pflasterte damit die Gehwege um den Saal herum und den zugehörigen Parkplatz.
Ähnliches ließe sich auch von den anderen Kongreßsälen in Deutschland berichten, von denen jeder individuell konzipiert wurde und auf seine Art schön ist. Und jeder ist, wie König Salomo vor über 3 000 Jahren vom Tempel in Jerusalem sagte, ein Haus, das ‘dem Namen Jehovas gebaut’ wurde (1. Kö. 5:5).
Daneben geht es mit dem Bau von Königreichssälen, entsprechend dem Bedarf der 2 083 Versammlungen in Deutschland, zügig voran. Derzeit bestehen 17 regionale Baukomitees. Bevor das erste 1984 gegründet wurde, besaßen Jehovas Zeugen in ganz Deutschland nur 230 Königreichssäle. Seither wurden bis August 1998 jährlich im Schnitt 58 neue Säle gebaut — das heißt mehr als einer pro Woche über einen Zeitraum von 12 Jahren.
Auch in Baufragen blicken Jehovas Zeugen in Deutschland über Staatsgrenzen hinaus. Sie gehören ja schließlich einer globalen Familie an. Über 40 International Servants aus Deutschland haben sich bereit erklärt, bei Bauarbeiten mitzuhelfen, ganz egal, wohin die Gesellschaft sie schicken würde und wie lange sie gebraucht würden. Weitere 242 Helfer haben solche Projekte in anderen Ländern unterschiedlich lange unterstützt.
Reisende Aufseher hüten die Herde
Ein wichtiger Faktor für das geistige Wohlergehen der Organisation ist die Arbeit der reisenden Aufseher. Diese Männer sind wahrhaftig Hirten der Herde Gottes (1. Pet. 5:1-3). Sie sind, wie sie der Apostel Paulus beschrieb, „Gaben in Form von Menschen“ (Eph. 4:8).
Nach dem 2. Weltkrieg besuchten reisende Aufseher die Versammlungen, erbauten sie und arbeiteten mit ihnen im Predigtdienst zusammen. Zu ihnen gehörten Brüder wie Gerhard Oltmanns, Josef Scharner und Paul Wrobel, die alle 1925 getauft worden waren. Otto Wulle und Max Sandner ließen sich beide in den 30er Jahren taufen.
Je nach Bedarf nahm man weitere Brüder in die Reihen der reisenden Aufseher auf. Vom Ende des 2. Weltkriegs bis in die Gegenwart standen in Westdeutschland mehr als 290 Brüder im Reisedienst und mehr als 40 in Ostdeutschland. Sie haben wirklich von sich selbst gegeben, um die Königreichsinteressen zu fördern. Für einige hat das bedeutet, daß sie ihre erwachsenen Kinder oder ihre Enkel nicht oft sehen konnten. Andere haben es neben ihren Aufgaben eingerichtet, ihren alten oder kranken Eltern regelmäßig Zeit zu widmen.
Einige reisende Prediger leisten ihre anstrengende und doch lohnende Arbeit bereits seit Jahrzehnten. Horst und Gertrud Kretschmer zum Beispiel haben seit Mitte der 50er Jahre schon ganz Deutschland bereist. Bruder Kretschmer war 1950 für kurze Zeit im Bethel Wiesbaden. Er weiß noch, wie Bruder Frost ihm liebevoll die Hand auf die Schulter legte und sagte: „Horst, mache dir nie Sorgen. Wenn du Jehova treu bleibst, er wird für dich sorgen. Ich habe dies so erlebt, du wirst es auch erleben. Bleib nur treu!“
Im Jahr 1998 gab es in Deutschland 125 Kreis- und Bezirksaufseher. Es sind reife Männer, die auf durchschnittlich 30 Jahre Vollzeitdienst für Jehova zurückblicken. Auch ihre Frauen setzen sich eifrig im Predigtdienst ein und spornen in den Versammlungen, die sie besuchen, besonders die Schwestern an.
Ein reisender Aufseher geht nach Brooklyn
Martin und Gertrud Pötzinger sind den Zeugen Jehovas in Deutschland ein Begriff. Beide hatten vor, während und nach Hitlers Drittem Reich Jehova treu gedient. Nach ihrer Freilassung aus der NS-Haft hatten sie den Vollzeitdienst unverzüglich wiederaufgenommen. Über 30 Jahre lang standen sie im Reisedienst und betreuten Kreise in ganz Deutschland. Sie erwarben sich die Liebe und Achtung Tausender von Zeugen.
Bruder Pötzinger besuchte 1959 die 32. Gileadklasse. Gertrud, die nicht Englisch sprach, begleitete ihn zwar nicht, freute sich aber mit ihm über dieses Vorrecht. Von ihrem Mann getrennt zu sein war für sie nichts Neues. Durch die NS-Verfolgung waren sie 9 Jahre gezwungenermaßen voneinander getrennt gewesen, und das nach erst wenigen Monaten Ehe. Jetzt, wo in Jehovas Organisation eine freiwillige Trennung wegen theokratischer Aktivitäten gefragt war, gab es kein Zögern, geschweige denn Klagen.
Keiner von beiden hatte Jehova je um persönlicher Vorteile willen gedient. Sie hatten theokratische Aufträge immer gern angenommen. Dennoch war die Überraschung groß, als sie 1977 eingeladen wurden, sich der Bethelfamilie in der Weltzentrale in Brooklyn (New York, USA) anzuschließen. Bruder Pötzinger wurde in die leitende Körperschaft berufen.
Das Ehepaar sollte im Bethel Wiesbaden bleiben, bis man eine Aufenthaltsgenehmigung für die Vereinigten Staaten beschafft hätte. Die Wartezeit dehnte sich länger aus als erwartet — auf mehrere Monate. Während Martin sein Englisch aufbesserte, klemmte sich auch seine tatkräftige Gertrud dahinter. Eine Frau in den Sechzigern lernt eine neue Sprache nicht spielend. Aber wenn es für den Dienst Jehovas war ...
Mehreren englischsprechenden Bethelmitarbeitern in Wiesbaden machte es große Freude, Martin und Gertrud beim Erlernen der Sprache behilflich zu sein. Jedesmal, wenn Gertrud über den Büchern verzweifelte, mahnte ihr Mann sie freundlich: “Take it easy, Gertrud, take it easy!” Doch Gertrud war nicht von der Sorte, die es leichtnahm. Ihr ganzes Leben im Dienst Jehovas war von ganzherzigem Einsatz und fester Entschlossenheit geprägt. Mit demselben Eifer machte sie sich also auch ans Englischlernen, und im November 1978, sobald die Einreisevisa da waren, begleitete sie ihren Mann nach Brooklyn.
Die Brüder in Deutschland verabschiedeten sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge, jedenfalls freuten sie sich mit ihnen über die neuen Dienstvorrechte. Es berührte sie tief, als sie etwa 10 Jahre später erfuhren, daß Martin am 16. Juni 1988 im Alter von 83 Jahren sein irdisches Leben beendet hatte.
Nach dem Tod ihres Mannes kam Gertrud zurück nach Deutschland, wo sie als Bethelmitarbeiterin dient. “Take it easy” ist immer noch nicht ihre Devise und wird es wohl auch nie sein. Neben ihrer Arbeit im Bethel verbringt Gertrud ihren Urlaub des öfteren im Hilfspionierdienst. (Näheres über die Pötzingers steht in den Wachtturm-Ausgaben vom 1. März 1970, 1. Oktober 1984 und 15. September 1988.)
Spezielle Schulen, um auf internationaler Ebene zu helfen
Im Jahr 1978, nicht lange bevor die Pötzingers nach Brooklyn gingen, wurde in Deutschland die Pionierdienstschule eingerichtet: ein 10tägiger praxisorientierter Lehrgang zur Stärkung der Pioniere. Diese Schule findet jedes Jahr, über das ganze Land verteilt, in verschiedenen Kreisen statt. Es werden alle Pioniere eingeladen, die schon mindestens ein Jahr in diesem Dienst stehen und die Schule noch nicht besucht haben. Bis 1998 hatten 16 812 an dem Lehrgang teilgenommen. Außer in Deutsch wurde der Unterricht auch in Englisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Serbokroatisch, Spanisch und Türkisch abgehalten.
Manche besuchten die Pionierdienstschule trotz sehr schwieriger Umstände. Gut eine Woche ehe Christine Amos an dem Lehrgang teilnehmen sollte, kam ihr Sohn auf dem Heimweg von einer Zusammenkunft bei einem Autounfall ums Leben. Wie sollte sie unter diesen Umständen etwas von der Schule haben? Wie würde ihr Mann zurechtkommen, wenn er währenddessen allein zu Hause bliebe? Die beiden entschieden, daß sie die Schule besuchen sollte, weil es ihr guttun würde, sich in geistige Dinge zu vertiefen. Ihr Mann wurde eingeladen, in dieser Zeit im Bethel mitzuarbeiten. Kurz darauf wurden sie beide gebeten, in Selters bei Bauarbeiten mitzuhelfen. Anschließend erlebten sie die Freude, bei Bauprojekten in Griechenland, Spanien und Simbabwe mit anzupacken. Und heute sind sie wieder Pioniere in Deutschland.
Einige, die auf der Pionierdienstschule waren, sind in der Lage gewesen, den Pionierdienst als Lebensziel zu verfolgen — ein Leben, das voller Herausforderungen steckt und zugleich große Befriedigung bringt. Inge Korth, Pionierin seit 1958, sagt: „Der Vollzeitdienst bietet mir eine besondere Hilfe, täglich meine tiefe Liebe und Dankbarkeit Jehova gegenüber zu zeigen.“ Waldtraut Gann, die 1959 in den Pionierdienst eintrat, erklärt: „Der Pionierdienst ist ein Schutz in diesem bösen System. Es ist etwas Besonderes, Jehovas Hilfe zu verspüren, was zu echtem Glück und Herzensfrieden führt. Ja es ist mit keinem materiellen Wert zu vergleichen.“ Martina Schaks, die zusammen mit ihrem Mann Pionier ist, meint: „Der Pionierdienst ist für mich eine ‚Schule fürs Leben‘ in vielen Eigenschaften, zum Beispiel Selbstdisziplin und Geduld. Als Pionier bin ich Jehova und seiner Organisation ganz nahe.“ Bei anderen war der Pionierdienst ein Sprungbrett für den Bethel-, Missionar- oder Kreisdienst.
Um dem dringenden Bedarf an Missionaren abzuhelfen, wurde 1981 in Deutschland eine Außenstelle der Gileadschule eingerichtet, so daß deutschsprachige Pioniere an diesem ausgezeichneten Lehrgang teilnehmen konnten. Da der neue Bethelkomplex in Selters noch nicht fertig war, fanden die ersten beiden Klassen in Wiesbaden statt. Auf den Umzug nach Selters folgten 3 weitere Klassen. Neben den 100 Studenten aus Deutschland besuchten deutschsprechende Studenten aus Luxemburg, der Schweiz und den Niederlanden diese 5 Klassen. Nach der Abschlußfeier wurden die Studenten in insgesamt 24 Länder zerstreut — eingeschlossen sind Gebiete in Afrika, Lateinamerika, Osteuropa und im pazifischen Raum.
Mitte der 70er Jahre gab es 183 Vollzeitdiener aus Deutschland, die die Wachtturm-Bibelschule Gilead absolviert hatten. Ende 1996 war die Zahl, zum Teil durch die Außenstelle der Gileadschule, auf 368 angestiegen. Wie schön zu wissen, daß im Januar 1997 rund die Hälfte dieser Absolventen immer noch als Missionare im Ausland diente! Zu ihnen gehören Paul Engler, der seit 1954 in Thailand tätig ist; Günter Buschbeck, der von 1962 an in Spanien diente, bis er 1980 nach Österreich kam; Karl Sömisch, der in Indonesien und im Nahen Osten predigte, bis er nach Kenia wechselte; Manfred Tonak, der nach seiner Tätigkeit in Kenia gebeten wurde, im Zweigbüro von Äthiopien mitzuhelfen, und Margarita Königer, die im Verlauf von 32 Jahren Missionardienst nach Madagaskar, Kenia, Benin und Burkina Faso kam.
Noch ein anderer Lehrgang — die Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung für unverheiratete Älteste und Dienstamtgehilfen — findet in Deutschland seit 1991 in gewissen Abständen statt. Deutschsprechende Brüder aus Belgien, Dänemark, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz, der Tschechischen Republik und Ungarn haben sich Brüdern aus Deutschland angeschlossen, um von dieser erstklassigen Schulung zu profitieren. Und nach der Abschlußfeier haben einige der Absolventen zusätzliche Verantwortung übernommen und sind nach Afrika, Osteuropa oder in andere Gebiete gegangen, wo spezielle Hilfe gebraucht wurde.
Auch das Bethelheim und die Druckerei in Selters haben sich praktisch als „Schule“ erwiesen, die Brüder dafür ausgerüstet hat, in Osteuropa auszuhelfen, sobald sich die Möglichkeit dazu auftat. Durch das Bethelleben haben sie gelernt, mit allen möglichen Charakteren zusammenzuarbeiten, und ihnen ist klargeworden, daß Jehova die verschiedensten Menschen trotz ihrer Unvollkommenheit in seinem Werk gebrauchen kann. Brüder aus der Dienstabteilung haben beobachtet, daß sich Probleme durchweg lösen lassen, wenn man biblische Grundsätze anwendet und gewissenhaft die Anweisungen der leitenden Körperschaft befolgt. Von Mitarbeitern, die selbst unter starkem Druck die Frucht des Geistes Gottes offenbarten, haben sie Ausgeglichenheit und absolutes Vertrauen zu Jehova gelernt. Bestimmt wertvolle Lehren, die sie den Brüdern in anderen Zweigen vermitteln können.
Durch Information und Liebe eine Barriere überwunden
In den vergangenen 10 Jahren wurden Jehovas Zeugen im Rahmen eines weltweiten Lehrprogramms in ihrem Entschluß unterstützt, das biblische Blutverbot zu befolgen (Apg. 15:28, 29). Damit war verbunden, eine Mauer aus Vorurteilen und Fehlinformationen abzubauen. Im Zuge dieses Programms wurde 1990 in Deutschland der Krankenhausinformationsdienst ins Leben gerufen. Im November desselben Jahres besuchten 427 Brüder, zum großen Teil aus Deutschland, aber auch aus 9 weiteren Ländern, ein Seminar, das in Deutschland abgehalten wurde. Dadurch wurde die internationale Zusammenarbeit gefestigt. Die Ältesten schätzten die gebotene Hilfe sehr. Ein Ältester aus Mannheim bemerkte: „Wir wurden ausgerüstet, unseren Standpunkt unbeirrbar und respektvoll darzulegen, ohne uns durch Angst lähmen zu lassen.“ Ein Ältester aus Österreich sagte: „Ich habe noch nie ein Seminar miterlebt, bei dem derart breitgefächerte Informationen so einfach und unkompliziert dargelegt wurden.“
Seither fanden noch etliche andere Seminare statt, bei denen die inzwischen 55 Krankenhaus-Verbindungskomitees in Deutschland geschult wurden, sich um Zeugen Jehovas zu kümmern, die eine medizinische Behandlung ohne Blut brauchen. Die Arbeit dieser Komitees hat viel Gutes bewirkt. Bis August 1998 hatten über 3 560 Ärzte in ganz Deutschland ihre Kooperation bei der transfusionslosen Behandlung von Zeugen Jehovas zugesagt. In dieser Zahl enthalten ist ein Viertel der Ärzte, die vor einigen Jahren von Focus als „die 1 000 besten Ärzte“ Deutschlands aufgeführt wurden.
Im Januar 1996 begannen die Krankenhaus-Verbindungskomitees, das speziell ausgearbeitete Handbuch Schutz der Familie und medizinische Behandlung für Zeugen Jehovas zu verteilen. (Dieses ansprechend gestaltete Handbuch, das ausschließlich für medizinisches Personal und für Amtspersonen konzipiert wurde, enthält Informationen über medizinische Alternativen zu Bluttransfusionen. In einer größeren Aktion hat man sich bemüht, es Richtern, Sozialarbeitern, Neonatologen und Kinderärzten zu übergeben.) Die meisten Richter äußerten sich anerkennend, und häufig hörte man Kommentare über die hohe Qualität und Praxisbezogenheit des Buches. Viele waren überrascht zu erfahren, daß für Personen, die Bluttransfusionen ablehnen, zahlreiche Behandlungsmethoden ohne Blut zur Verfügung stehen. Ein Richter in Nördlingen sagte: „Das ist genau das, was ich brauche.“ Ein Professor für bürgerliches Recht an der Universität des Saarlandes benutzte bei einer Gruppe fortgeschrittener Studenten Material aus dem Handbuch als Grundlage für den Unterricht und für ein schriftliches Examen.
Da Krankenhaus-Verbindungskomitees mittlerweile weltweit tätig sind, ist in Notfällen internationale Zusammenarbeit möglich. In Situationen, wo bestimmte ärztlich indizierte Medikamente in dem Land, wo sich der Patient befand, nicht erhältlich waren, gelang es durch unser internationales Netzwerk, sie in Deutschland zu beschaffen und dort hinzuschicken. Außerdem sorgte man dafür, daß Brüder und Schwestern aus über einem Dutzend Länder mit kooperativen Ärzten in Deutschland Kontakt aufnehmen konnten, um sich auf eine Behandlung zu einigen, die ihren finanziellen Möglichkeiten entsprach.
Natürlich profitieren auch deutsche Zeugen Jehovas von dieser internationalen Zusammenarbeit. 1995 hatte eine Schwester während ihres Urlaubs in Norwegen einen Unfall und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. Als ihr Sohn in Deutschland davon erfuhr, bat er sofort den Krankenhausinformationsdienst um Hilfe. Dieser unterrichtete das norwegische Zweigbüro. Tags darauf erhielt die Schwester Besuch von einem norwegischen Zeugen, der 130 Kilometer gefahren war, um zur besseren Verständigung eine deutschsprechende interessierte Frau zu holen. Später schrieb der Sohn in einem Dankbrief: „Welch eine Organisation — welche Liebe! ... Oft reichen die Worte gar nicht aus, um die Gefühle auszudrücken. So etwas ist wirklich einmalig.“
So ist man durch Information und Liebe in einem Bereich, wo es eine gewaltige Hürde zu überwinden galt, ein großes Stück weitergekommen. Kurz davor wurde noch eine andersartige Barriere aus dem Weg geräumt.
Plötzlich — die Berliner Mauer fällt!
Die Plötzlichkeit dieses Geschehens versetzte die Welt in Staunen. Rund um den Erdball verfolgte man die Ereignisse am Fernsehschirm. Tausende in Berlin feierten lautstark. Die Grenze zwischen Ost und West existierte nicht mehr. Der Tag: 9. November 1989.
Über 25 Jahre zuvor, in den Morgenstunden des 13. August 1961, hatten die Berliner Bürger mit Entsetzen festgestellt, daß die Ostberliner Behörden eine Mauer bauten, die den kommunistisch kontrollierten Sektor vom Rest der Stadt abschnitt. Berlin wurde in Ost und West gespalten und spiegelte damit die Situation der Staaten DDR und Bundesrepublik Deutschland wider. Noch dramatischer als alles andere war vielleicht, daß die Berliner Mauer zum Symbol des Kampfes zwischen den beiden Supermächten im kalten Krieg wurde.
Am 12. Juni 1987, gut zwei Jahre vor den verblüffenden Ereignissen von 1989, forderte US-Präsident Ronald Reagan — den Blick auf das Brandenburger Tor gerichtet und die Berliner Mauer im Rücken —: „Mr. Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Mr. Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer ab.“ Gab es aber irgendein Anzeichen, daß man dieser Forderung nachgeben würde? War es mehr als Rhetorik des kalten Krieges? Eigentlich nicht. Noch Anfang 1989 sagte DDR-Chef Erich Honecker wie zur Antwort, die Mauer werde „in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen“.
Doch mit unerwarteter Plötzlichkeit öffnete sich das Brandenburger Tor, und die Berliner Mauer zerbröselte. Ein Bethelmitarbeiter in Selters erinnert sich, daß er am Abend des 9. November, an einem Donnerstag, nach seiner Rückkehr von einer Zusammenkunft zu Hause den Fernseher anschaltete, um sich die Spätnachrichten anzusehen. Ungläubig verfolgte er die Berichte über die Öffnung der Grenze zwischen Ost- und Westberlin. Zum erstenmal nach 27 Jahren strömten Ostberliner ungehindert nach Westberlin. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen: Autos fuhren, begleitet von freudigem Hupkonzert, über die Grenze, während sich immer mehr Westberliner, die zum Teil aus dem Bett gesprungen waren, in Richtung Grenze aufmachten, um die unerwarteten Besucher zu umarmen. Die Tränen liefen nur so. Buchstäblich über Nacht war die Mauer gefallen!
In den nächsten 24 Stunden konnten sich Menschen rund um die Erde nur schwer vom Fernseher losreißen. Vor ihren Augen spielte sich Geschichte ab. Was bedeutete das alles für Jehovas Zeugen in Deutschland? Was würde es für Jehovas Zeugen in aller Welt bedeuten?
Ein Trabi steht vor der Tür
Am Samstag darauf, kurz vor 8 Uhr, war ein Bethelmitarbeiter gerade auf dem Weg zur Arbeit, als er Karlheinz Hartkopf begegnete, einem anderen Mitarbeiter, der jetzt in Ungarn dient. Aufgeregt meinte der Bruder: „Ich bin sicher, es dauert nicht lange, bis die ersten Brüder aus der DDR in Selters auftauchen.“ Bruder Hartkopf erwiderte in seiner ruhigen, nüchternen Art: „Sie sind schon da.“ Tatsächlich waren in den frühen Morgenstunden zwei Brüder mit ihrem Zweitakt-Trabi aus der DDR angekommen, hatten vor dem Betheleingang geparkt und warteten auf den Arbeitsbeginn.
Die Neuigkeit verbreitete sich im Bethel wie ein Lauffeuer. Doch ehe alle die Gelegenheit hatten, die unerwarteten, wenngleich willkommenen Besucher zu sehen und zu begrüßen, hatte der mit Literatur vollgepackte Trabi auch schon den Heimweg in die DDR angetreten. Zwar war dort die Literatur offiziell noch verboten, wie überhaupt das Werk der Zeugen Jehovas, aber durch die Begeisterung der Stunde erhielten die Brüder neuen Mut. „Wir müssen morgen früh zur Zusammenkunft zurück sein“, erklärten sie. Man kann sich vorstellen, wie sich die Versammlung freute, als diese Brüder mit Kartons voller Literatur eintrafen, die lange Zeit so rar gewesen war.
In den nächsten Wochen strömten Tausende Ostdeutsche über die Grenze nach Westdeutschland, viele zum erstenmal in ihrem Leben. Sie genossen ganz offensichtlich ihre lang entbehrte Bewegungsfreiheit. An der Grenze wurden sie von winkenden Westdeutschen in Empfang genommen. Auch Zeugen Jehovas waren unter denen, die die Ankommenden begrüßten, allerdings mit etwas Gehaltvollerem als sichtbaren Gefühlsregungen. Sie verbreiteten großzügig biblische Literatur unter den Besuchern aus dem Osten.
In manchen Grenzorten gaben sich die Versammlungen besondere Mühe, auf die anreisenden Ostdeutschen zuzugehen. Da die Literatur der Zeugen Jehovas jahrzehntelang verboten gewesen war, wußten viele kaum etwas oder gar nichts davon. Statt Haus-zu-Haus-Dienst war jetzt „Trabi-zu-Trabi-Dienst“ gefragt. Die Leute wollten alles kennenlernen, was neu war, auch in puncto Religion. Manchmal sagten die Verkündiger einfach: „Diese beiden Zeitschriften haben Sie wahrscheinlich noch nie gelesen, weil sie in Ihrem Land fast 40 Jahre verboten waren.“ Oft wurde entgegnet: „Wenn sie verboten waren, müssen sie was taugen. Geben Sie mal her.“ Zwei Verkündiger in der Grenzstadt Hof verbreiteten jeweils bis zu 1 000 Zeitschriften im Monat. Es versteht sich von selbst, daß die Zeitschriftenvorräte in den umliegenden Versammlungen bald aufgebraucht waren.
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DeutschlandJahrbuch der Zeugen Jehovas 1999
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[Bild auf Seite 69]
Internationaler Kongreß „Triumphierendes Königreich“ (Nürnberg, 1955)
[Bilder auf Seite 73]
Deutsche Zeugen haben vielen Ausländern die biblische Wahrheit nähergebracht
[Bild auf Seite 88]
Bethelkomplex in Wiesbaden (1980)
[Bild auf Seite 90]
Zweigkomitee (von links nach rechts); vorn: Günter Künz, Edmund Anstadt, Ramon Templeton, Willi Pohl; hinten: Eberhard Fabian, Richard Kelsey, Werner Rudtke, Peter Mitrega
[Bilder auf Seite 95]
Einige der 10 Kongreßsäle in Deutschland:
1 Glauchau
2 Reutlingen
3 München
4 Meckenheim
5 Berlin
[Bild auf Seite 99]
Martin und Gertrud Pötzinger
[Bilder auf Seite 100, 101]
Zweiggebäude in Selters
[Bilder auf Seite 102]
Einige Deutsche, die im Ausland Missionare sind: (1) Manfred Tonak, (2) Margarita Königer, (3) Paul Engler, (4) Karl Sömisch, (5) Günter Buschbeck
[Bilder auf Seite 110]
Sobald irgendwo in Osteuropa ein Verbot aufgehoben wurde, gingen große Mengen Literatur auf die Reise
[Bilder auf Seite 118]
Berliner Kongreß (1990)
[Bilder auf Seite 124]
Der erste Königreichssaal in der ehemaligen DDR
[Bilder auf Seite 132, 133]
Das Programm zur Bestimmungsübergabe — zuerst in Selters (siehe oben), dann landesweit in 6 Stadien
[Bild auf Seite 139]
Mittel, um einer Flut von Fehlinformationen entgegenzuwirken
[Bilder auf Seite 140, 141]
In den Konzentrationslagern (wo Jehovas Zeugen durch einen lila Winkel gekennzeichnet waren) blieben diese loyalen Christen (hier in Brandenburg, 1995) im Glauben fest
[Bilder auf Seite 147]
Andere Seite, im Uhrzeigersinn: Heinrich Dickmann, Änne Dickmann, Gertrud Pötzinger, Maria Hombach, Josef Rehwald, Elfriede Löhr
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