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    Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1999
    • Eine Siegesfeier in Berlin

      Jetzt, wo die Ära kommunistischer Unterdrückung vorüber war, mußte einfach gefeiert werden. Vor allem wollte man Jehova unbedingt in größerem, öffentlichen Rahmen für die Gelegenheit danken, ihm nun mit mehr Freiheit dienen zu können.

      Im November 1989, kaum war die Berliner Mauer gefallen, gab die leitende Körperschaft Anweisungen, einen internationalen Kongreß in Berlin zu planen. Die Kongreßorganisation funktionierte im Handumdrehen. Die verantwortliche Gruppe traf sich am Abend des 14. März 1990, um die Kongreßvorbereitungen zu besprechen. Helmut Martin weiß noch, daß ihn der Kongreßaufseher, Dietrich Förster, bat, den versammelten Brüdern mitzuteilen, daß am selben Tag Jehovas Zeugen in Ostdeutschland die staatliche Anerkennung erhalten hatten. Das Verbot war offiziell zu Ende!

      Da der Kongreß relativ kurzfristig geplant wurde, war das Olympiastadion nicht mehr an einem Wochenende zu haben. Deshalb wurde der Kongreß für Dienstag, den 24. Juli, bis Freitag, den 27. Juli, angesetzt. Als das Stadion freigegeben wurde, hatte man nur einen Tag Zeit für den Aufbau und hinterher nur ein paar Stunden, um alles abzubauen.

      Deshalb waren am Montag, den 23. Juli, schon um 5 Uhr morgens Hunderte von Freiwilligen im Stadion. Gregor Reichart, Bethelmitarbeiter in Selters, sagte: „Mit Schwung machten sich die Brüder und Schwestern aus der DDR an die Arbeit, so, als ob sie schon immer dabeigewesen wären.“ Ein Platzmeister des Stadions meinte zufrieden: „Durch eure Leute wird zum erstenmal das Stadion wirklich gründlich saubergemacht.“

      Zirka 9 500 Besucher aus Ostdeutschland reisten mit 13 Sonderzügen an. Andere kamen mit 200 gemieteten Bussen. Ein Ältester berichtete, er habe bei den Vereinbarungen für einen Sonderzug einem Bahnbeamten gegenüber erwähnt, daß allein für den Dresdener Raum 3 Sonderzüge geplant seien. Der Beamte habe mit großen Augen gefragt: „Gibt es denn so viele Zeugen in Ostdeutschland?“

      Für die Reisenden in den Sonderzügen begann der Kongreß schon vor der Ankunft in Berlin. „Wir versammelten uns auf dem Chemnitzer Hauptbahnhof, um in den bereitgestellten Zug einzusteigen“, erzählte Harald Päßler, ein Ältester aus Limbach-Oberfrohna. „Diese Fahrt nach Berlin war für mich ein unvergeßliches Erlebnis. Nach der langen Verbotszeit und der Tätigkeit in kleinen Gruppen im Untergrund war es auf einmal möglich, so viele Brüder auf einmal zu sehen. Die gesamte Fahrt über waren wir in den verschiedenen Abteilen und sprachen wieder mit Brüdern, die wir Jahre beziehungsweise Jahrzehnte nicht mehr gesehen hatten. Es war eine Wiedersehensfreude, die man nicht beschreiben kann. Alle waren um einige Jahre gealtert, hatten aber treu ausgeharrt. Auch der Empfang auf dem Bahnhof Berlin-Lichtenberg, wo wir über Lautsprecher zu den einzelnen Sammelpunkten geleitet wurden und unsere Berliner Brüder mit großen Schildern dort standen, war eine völlig neue Erfahrung, heraus aus der Anonymität. Hier erlebten wir das erste Mal, daß wir eine große internationale Bruderschaft sind, was wir bisher nur theoretisch durch unsere Literatur oder sonstige Nachrichten erfahren hatten.“

      Für viele Zeugen Jehovas war es der allererste Kongreß. „Als die Einladung kam, waren alle begeistert“, erinnerte sich Wilfried Schröter. Das kann man ihm gut nachfühlen, zumal er sich 1972 unter Verbot Gott hingab. „Wochen vorher fieberten wir diesem Ereignis entgegen. Ich hatte in meinem Leben noch nie so etwas erlebt, und vielen anderen Brüdern erging es ebenso. So war es unfaßbar, nun eine internationale Bruderschaft in einem großen Stadion zu Gesicht zu bekommen.“

      Wie oft hatten sich die Zeugen in Ostberlin gewünscht, die wenigen Kilometer durch die Stadt zu fahren, dorthin, wo sich ihre Glaubensbrüder zu einem Kongreß versammelten! Jetzt war es endlich möglich.

      Fast 45 000 aus 64 Ländern waren zugegen. Auch 7 Brüder von der leitenden Körperschaft waren mit dabei. Sie waren gekommen, um sich mit ihren Glaubensbrüdern aus Ostdeutschland über dieses bedeutsame Ereignis zu freuen. Dasselbe Stadion benutzte das Dritte Reich 1936 für die Olympischen Spiele, um die Welt mit seinen Leistungen zu beeindrucken. Nun hallte das Stadion erneut von donnerndem Applaus wider, allerdings nicht, um Sportler zu rühmen oder aus Nationalstolz. Hier waren Mitglieder einer wirklich glücklichen internationalen Familie von Dienern Jehovas zusammen, und ihr Applaus zeugte von Dankbarkeit gegenüber Jehova und von Wertschätzung für die kostbaren Wahrheiten aus seinem Wort. Bei diesem Anlaß stellten sich 1 018 zur Wassertaufe an, von denen die meisten die Wahrheit in der DDR unter Verbot kennengelernt hatten.

      Die Anwesenden, die sich wahrscheinlich am besten in die ostdeutschen Zeugen hineinversetzen konnten, waren die rund 4 500 enthusiastischen Delegierten aus Polen, dem Nachbarland der DDR. Auch sie hatten viele Jahre Verbot hinter sich, und erst vor kurzem hatten sie ihren ersten großen Kongreß nach langer Zeit erlebt. Ein Zeuge aus Polen schrieb: „Die Brüder aus Polen schätzen die Opferbereitschaft der Nachbarn im Westen sehr. Ihnen standen nämlich kostenlose Unterkünfte, Fahrscheine zum Kongreßgelände und die Verpflegung zur Verfügung. Ohne dies wäre die Anwesenheit hier unmöglich gewesen.“

      Die Zeugen aus Westdeutschland, für die Kongresse in Freiheit nichts Außergewöhnliches sind, waren dennoch tief beeindruckt. „Es war ein erhebendes Gefühl, auf der Ehrentribüne, auf der einst Adolf Hitler und andere Nazigrößen saßen, nun unsere älteren treuen Brüder zu sehen, von denen einige nicht nur während der vergangenen 40 Jahre von den Kommunisten verfolgt wurden, sondern einige auch schon während des Dritten Reiches“, meinte Klaus Feige von der Bethelfamilie in Selters. Dieser besondere Sektor des Stadions wurde rücksichtsvollerweise für die Betagten und Behinderten reserviert. Was für ein eindrucksvoller Beweis dafür, daß Gottes Königreich über politische Mächte triumphierte, die sich verschworen hatten, um seinen endgültigen Sieg zu verhindern!

      Versammlungsstätten bereitgestellt

      Nachdem das Verbot in Ostdeutschland nicht mehr bestand, sorgte man auch gleich dafür, daß die Brüder und Schwestern dort von dem regulären Kongreßprogramm profitierten, das Jehovas Diener weltweit haben. Noch ehe die Kreise richtig eingeteilt waren, lud man die Versammlungen zu Tagessonderkongressen und Kreiskongressen in Westdeutschland ein. Anfangs setzten sich die Anwesenden zu gleichen Teilen aus Westdeutschen und Ostdeutschen zusammen. Dadurch wurde die brüderliche Verbundenheit gestärkt, und die ostdeutschen Zeugen hatten durch die Zusammenarbeit mit ihren westdeutschen Glaubensbrüdern die Gelegenheit, alles kennenzulernen, was zum Kongreßablauf gehört.

      Als Kreise gebildet wurden, stellte man den ostdeutschen Zeugen die in Westdeutschland bereits bestehenden Kongreßsäle zur Verfügung. 5 davon lagen nahe genug an der ehemaligen Grenze: in Berlin, München, Büchenbach, Möllbergen und Trappenkamp. Trotzdem machte man sich so bald wie möglich an den Bau eines Kongreßsaals in Ostdeutschland. Er befindet sich in Glauchau, unweit von Dresden, und wurde am 13. August 1994 seiner Bestimmung übergeben. Mit 4 000 Sitzplätzen ist er gegenwärtig der größte Kongreßsaal der Zeugen Jehovas in Deutschland.

      Man begann auch mit dem Bau von Königreichssälen. In der DDR durfte es keine geben, doch jetzt brauchte man Säle für die über 20 000 Zeugen. Was sich auf den Baustellen abspielte, verblüffte die Beobachter.

      Den Bau eines Königreichssaals in Stavenhagen kommentierte eine Zeitung wie folgt: „Art und Tempo, in dem hier ein Haus entsteht, setzte bereits zahlreiche Neugierige in Erstaunen: ... knapp drei Tage ...[, in] denen das Haus von etwa 240 ausschließlich Freiwilligen — Fachleute aus insgesamt 35 Gewerken und allesamt den Zeugen Jehovas angehörend — hochgezogen wurde. In unentgeltlichem Wochenendeinsatz.“

      Eine andere Zeitung schrieb über einen Saal, der in Sagard auf der Ostseeinsel Rügen gebaut wurde: „Mit Bienenfleiß sind dort etwa 50 Frauen und Männer dabei, die Fundamentierung für das Gebäude vorzubereiten. Dennoch herrscht keine Hektik, die Atmosphäre ist sonderbar entspannt und freundlich. Trotz sichtlich hohen Arbeitstempos — keiner ist nervös oder schnauzt herum, wie man das sonst vom Bau kennt.“

      Ende 1992 waren 7 Königreichssäle errichtet, die von 16 Versammlungen benutzt wurden. 30 weitere waren in Planung. 1998 kamen bereits mehr als 70 Prozent der Versammlungen in der ehemaligen DDR in eigenen Königreichssälen zusammen.

      Bewegende internationale Kongresse

      Als in einem osteuropäischen Land nach dem anderen staatliche Einschränkungen gelockert wurden, plante die leitende Körperschaft für dort Kongresse. Es waren Anlässe zur geistigen Erbauung — Anlässe, bei denen das Werk, das Gott seinen Dienern aufgetragen hat, deutlich in den Vordergrund gerückt wurde (Mat. 6:19-24, 31-33; 24:14). Da sich in diesen Ländern viele Zeugen Jehovas jahrelang nur in kleinen Gruppen versammeln konnten, lernten sie auf den Kongressen Mitgläubige kennen und schöpften Mut durch die Beweise, daß Jehova ihr treues Ausharren segnet. Es waren auch Delegierte aus anderen Ländern eingeladen, so daß die Brüder und Schwestern ein noch vollständigeres Bild von der internationalen Bruderschaft erhielten, zu der auch sie gehörten. Viele reisten aus Deutschland an. Auf den internationalen Kongressen, die von 1989 bis 1993 in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der ehemaligen Sowjetunion abgehalten wurden, waren sie gut vertreten.

      Einen Tag vor Beginn des internationalen Kongresses „Freunde der göttlichen Freiheit“, der 1991 in Prag (heute in der Tschechischen Republik) stattfand, äußerte sich die Zeitung Lidové noviny über die beachtliche Leistung eines Teams von rund 40 Zeugen beim Installieren „einer von ihren ‚Brüdern aus Deutschland‘ geliehenen Lautsprecheranlage“. Die deutschen Brüder verliehen die Lautsprecheranlage allerdings nicht nur, sondern legten auch beim Installieren mit Hand an. Sie waren glücklich, daß sie an ihre tschechischen Glaubensbrüder dadurch etwas von ihrer jahrzehntelangen Kongreßerfahrung weitergeben konnten. Meistens ist die deutsche Delegation bei internationalen Kongressen auf mehrere hundert begrenzt, diesmal aber waren 30 000 Delegierte zum Prager Kongreß eingeladen. Und was für ein Kongreß das war!

      Dieter Kabus, der 1955 in der Tschechoslowakei als Bezirksaufseher gedient hatte und den Kongreß als Delegierter aus Deutschland besuchte, schrieb: „Nach der Freigabe der [mit gesellschaftseigenen Maschinen gedruckten] Neuen-Welt-Übersetzung erhoben sich alle von ihren Plätzen und spendeten lang anhaltenden Beifall. Wir umarmten uns vor Freude und schämten uns unserer Tränen nicht. Wir dachten an die Zeit der Verfolgung, wo wir im Lager nur eine Bibel hatten, obwohl wir 16 Brüder dort waren. Viele blieben noch länger als eine Stunde, sangen und erfreuten sich der Gemeinschaft miteinander.“

      Ein Jahr später, 1992, waren auch beim internationalen Kongreß in St. Petersburg (Rußland) deutsche Delegierte mit von der Partie. Manch einer erinnert sich noch, daß nicht alles reibungslos verlief, zumindest was die Unterbringung der deutschen Delegation betraf. Aber selbst das hatte positive Auswirkungen. Als eine Gruppe Delegierter Hals über Kopf in ein anderes Hotel umziehen mußte, war die 50jährige russische Betreuerin der Gruppe vom Verhalten der Zeugen dermaßen beeindruckt, daß sie ausrief: „Sie sind keine normalen Menschen, denn Sie schreien nicht und regen sich nicht auf!“ Von größerer Bedeutung für diese Delegierten war allerdings die Haltung ihrer lieben russischen Brüder und Schwestern. Nach dem Kongreß schrieb eine deutsche Delegierte: „Man kann es nicht in Worte kleiden, diese Wertschätzung, die unsere Brüder für das Programm hatten. Ohne Bibel und Liederbuch [damals in Rußland noch Mangelware] sitzen sie aufmerksam da und hören gespannt zu, was ihnen Jehova zu sagen hat.“

      Im Jahr darauf besuchten über 1 200 deutsche Zeugen Jehovas die internationalen Kongresse in Moskau (Rußland) und Kiew (Ukraine). Bei ihrer Rückkehr sprudelten sie nur so über vor Begeisterung. Ein Delegierter war Titus Teubner, reisender Aufseher seit 1950. Er sagte: „Persönlich hatte ich meiner Frau versprochen: Sollte das Werk im Osten einmal frei werden, dann bin ich mit bei denen, die den ersten Kongreß in Moskau besuchen.“ Nachdem er 1993 sein Versprechen eingehalten hatte, meinte er: „Es grenzt fast an ein Wunder, daß ich auf dem Roten Platz die Zeitschriften der göttlichen Regierung abgeben konnte.“ Eine andere Delegierte schrieb: „Wir durften auf diesen Kongreß fahren, um unsere russischen Brüder zu ermuntern — was auch ganz bestimmt geschehen ist. Aber auch das Gegenteil war der Fall. Unsere russischen Brüder haben uns auf großartige Weise ermuntert und uns ein Beispiel der Liebe, Dankbarkeit, Treue und Wertschätzung gegeben.“

      Die Bethelmitarbeiter empfanden eine tiefe Dankbarkeit, diesen treuen Brüdern und Schwestern dienen zu können. Die Dankbarkeit steigerte sich noch, als ihnen die Berichte der Bethelfahrer zu Ohren kamen, die von Transporten in andere Länder zurückkehrten und erzählten, wie lebhaft man sie willkommen hieß, mit welcher Freude die Brüder, auch spät in der Nacht, beim Abladen halfen und wie sie gemeinsam beteten, bevor sie den Fahrern zum Abschied winkten.

      Mehr Gebäude, um einen dringenden Bedarf zu decken

      In einem Land Osteuropas nach dem anderen wurden die Verbote umgestoßen. Es fanden große Kongresse statt. Das Predigen der guten Botschaft erhielt neuen Schwung. Der Bedarf an biblischer Literatur in diesen Regionen stieg sprunghaft an. Wie war er zu decken? Dem Zweig in Deutschland wurde eine weitere Rolle zugedacht.

      Schon 1988, ehe die Berliner Mauer fiel, hatte die leitende Körperschaft eine Vergrößerung des deutschen Zweigkomplexes um 50 Prozent genehmigt. Anfangs sah das Zweigkomitee keine Notwendigkeit für eine solche Erweiterung. Schließlich war erst 4 Jahre zuvor ein großer, völlig neuer Komplex eingeweiht worden. Trotzdem reichte man bei den lokalen Behörden Anträge ein. Bruder Rudtke erinnert sich: „Als wir unsere Pläne vorlegten, sagte einer der Behördenvertreter von Selters hinter vorgehaltener Hand zu mir: ‚Ich rate Ihnen, so groß wie möglich zu bauen, denn die Behörden werden nicht noch einmal einer Erweiterung zustimmen.‘ Das brachte uns zum Nachdenken.“ Bedeutsamerweise waren innerhalb weniger Monate die Genehmigungen von all den verschiedenen Behörden eingeholt, und statt der ursprünglich geplanten Erweiterung um 50 Prozent war man nun bei 120 Prozent angelangt.

      Im Januar 1991 ging es mit dem Bauen los. Wie es schien, waren jedoch nicht alle Brüder von der Notwendigkeit des Projekts überzeugt, denn die Reaktion auf den Ruf nach Facharbeitern war zunächst zögerlich und die finanzielle Unterstützung eher dürftig. Was war zu tun?

      Es lag auf der Hand, daß die Brüder einfach besser informiert werden mußten, weshalb man am 3. Oktober 1991 in allen Kongreßsälen Deutschlands besondere Zusammenkünfte mit ausgewählten Ältesten abhielt. Man erklärte ihnen, die Buchproduktion im deutschen Zweig habe sich während des vergangenen Jahrzehnts fast verdreifacht. In Polen, Ungarn, Ostdeutschland, Rumänien, Bulgarien, der Ukraine und der Sowjetunion bestehe kein Verbot mehr. Man liefere Literatur aus bis weit über die deutsche Grenze hinaus. Die Verkündiger in diesen Ländern würden dringend um Literatur bitten. Selters solle eine führende Rolle darin spielen, sie bereitzustellen. Als den Brüdern die Notwendigkeit für das Projekt klar wurde, unterstützten sie es großzügig.

      Allerdings erwies sich die anfänglich träge Reaktion als Segen. Wieso? Statt ausschließlich Freiwillige aus Deutschland in Anspruch zu nehmen, beschloß der Zweig, eine Regelung zu nutzen, die die leitende Körperschaft 1985 getroffen hatte. Damals war ein internationales Bauprogramm eingeführt worden. Ehe die Arbeiten am deutschen Zweigkomplex abgeschlossen waren, hatten 331 Freiwillige aus 19 Ländern mit der Bethelfamilie zusammengearbeitet.

      Natürlich packten auch viele Zeugen aus Deutschland mit an — vorwiegend in ihrem Urlaub. Unter ihnen befanden sich um die 2 000 Verkündiger aus der früheren DDR, von denen es sich die meisten während des Verbots nie hätten träumen lassen, einmal im Bethel mitzuarbeiten.

      Das Wochenende der Bestimmungsübergabe

      Alle Zeugen Jehovas in Deutschland hatten einen Beitrag zu diesem Bauprojekt geleistet, sei es durch körperlichen Einsatz, finanzielle Hilfe oder durch Gebete. Selters war ihr Bethel, ein beträchtlich erweiterter Gebäudekomplex, den sie nun Jehova übergeben wollten. So machte man, schon lange bevor sich die Bauarbeiten dem Ende näherten, Pläne für eine gemeinsame Feier, zu der die gesamte Bruderschaft in Deutschland und viele Gäste aus dem Ausland eingeladen werden sollten.

      Das Programm begann am Samstag, den 14. Mai 1994, morgens, und es wurde betont, daß sich in Osteuropa „eine große Tür, die zur Tätigkeit führt“, geöffnet habe (1. Kor. 16:9). Es war glaubensstärkend, zu hören, wie Brüder aus diesen Ländern persönlich über die hervorragende Mehrung und die Aussichten auf künftiges Wachstum berichteten. Die Begeisterung der 3 658 Anwesenden in Selters an jenem Tag sprang auf den Sonntag über. Alle Zeugen Jehovas in Deutschland waren in 6 Stadien eingeladen worden, die man aus diesem Anlaß gemietet hatte: in Bremen, Gelsenkirchen, Köln, Leipzig, Nürnberg und Stuttgart.

      Als das Programm simultan an allen 6 Orten begann, verstummten Zehntausende in Erwartung dessen, was kommen sollte. Nach einem Kurzüberblick über das Programm, das am Samstag in Selters abgelaufen war, folgten weitere herzerfrischende Berichte von ausländischen Delegierten. Höhepunkt waren Ansprachen in Gelsenkirchen, Leipzig und Stuttgart, die jeweils von einem dort anwesenden Mitglied der leitenden Körperschaft gehalten wurden. Für die Zuhörer an den übrigen 3 Orten übertrug man die Ansprachen per Standleitung. Die 177 902 Versammelten wurden angespornt, im Glauben stark zu bleiben und der Versuchung zu widerstehen, langsamer zu machen. Tatkräftiger Einsatz war das Gebot der Stunde! Jehova hatte unerwartet die Tür zu größerer Mehrung in Osteuropa geöffnet, und nichts durfte das Werk aufhalten. Ehe man sich in einem Dankgebet vor Jehova verneigte, sang man zusammen: „Viele Myriaden von Brüdern / stehen an meiner Seit’; / jeder als treuer Zeuge / hält fest an Lauterkeit.“ Wohl selten hatte es einen deutlicheren Beweis der für Jehovas Volk kennzeichnenden Einheit und Entschlossenheit gegeben.

      Ein herrliches Wochenende der Bestimmungsübergabe war zu Ende, aber mit der Expansion ging es weiter. Früh am nächsten Morgen machten sich die Baumitarbeiter erneut ans Werk. Das neue Zentrallager, das die Gesellschaft kurz zuvor eingerichtet hatte, um unnötige Arbeiten und Kosten zu vermeiden, machte einen größeren Versandbereich in Selters erforderlich.

      Im Jahr 1975 produzierte der deutsche Zweig 5 838 095 Bücher und 25 289 120 Zeitschriften. Über 20 Jahre später, im Dienstjahr 1998, war die Produktion auf 12 330 998 Bücher, 199 668 630 Zeitschriften und 2 656 184 Tonbandkassetten angewachsen. Diese gewaltige Zunahme kam in erster Linie durch die Nachfrage in Osteuropa zustande.

      Während ein Verbot nach dem anderen aufgehoben wurde, lieferte Selters Literatur in immer mehr osteuropäische Länder. 68 Prozent der Literatur, die von Mai 1989 bis August 1998 in Selters hergestellt wurde, das heißt 50 583 Tonnen, gingen in 21 Länder Osteuropas und Asiens. Das entspricht 2 529 Lkws mit 20 Tonnen Ladung.

      Bauen, aber auch Zeugnis geben

      Seit 1975 haben Jehovas Zeugen eine Menge gebaut. Und wie Noah, der neben seiner Bautätigkeit ein „Prediger der Gerechtigkeit“ war, sind sie bemüht, ihre Pflichten auszubalancieren (2. Pet. 2:5). Sie wissen, daß die Bautätigkeit heute ein wichtiger Teil der wahren Anbetung ist. Gleichzeitig halten sie sich deutlich vor Augen, wie wichtig und dringlich das Predigen der guten Botschaft ist.

      Der Dienstabteilung in Selters ist aufgefallen, daß die zusätzliche Tätigkeit im Rahmen der Bauarbeiten tatsächlich von vermehrtem Zeiteinsatz im Predigtdienst begleitet war. Und natürlich war der Bau theokratisch genutzter Gebäude an sich schon ein Zeugnis. Königreichssäle in Schnellbauweise und Kongreßsäle haben auf Beobachter immer wieder großen Eindruck gemacht. Die mit Eifer und Hingabe verrichtete Bautätigkeit der Zeugen Jehovas trägt dazu bei, die Aufmerksamkeit auf die gute Botschaft zu lenken, die sie predigen. Ehrliche Menschen sind neugierig zu erfahren, was für eine Kraft Jehovas Zeugen in einer Weise motiviert, wie es bei keiner anderen religiösen Gruppe zu beobachten ist.

      Was wurde aus Magdeburg?

      In dieser Zeit wurde unter anderem auch ein Königreichssaal in Magdeburg seiner Bestimmung übergeben. 1923 hatte die Gesellschaft ihr deutsches Büro von Barmen nach Magdeburg verlegt. 1927/28 errichtete man dort einen würdigen Tagungssaal mit zirka 800 Sitzplätzen. Aus Wertschätzung für das von der Watch Tower Society herausgegebene Buch Die Harfe Gottes nannte man ihn Harfensaal. Die hintere Wand schmückte ein Relief, das den Harfe spielenden König David darstellte.

      Im Juni 1933 konfiszierten die Nationalsozialisten das Eigentum der Gesellschaft in Magdeburg, schlossen die Druckerei und hißten auf den Gebäuden die Hakenkreuzfahne. Nach dem 2. Weltkrieg ging das Eigentum an die Zeugen zurück — allerdings nicht auf Dauer, denn im August 1950 wurden sie von kommunistischen Behörden enteignet.

      Im Jahr 1993, nach der Wiedervereinigung, erhielt die Gesellschaft einen Großteil des Eigentums zurück, und für den Rest wurde sie weitgehend entschädigt. Zu dem zurückgegebenen Teil gehörte der frühere Harfensaal. Nach mehrmonatigen Renovierungsarbeiten auf dem Grundstück hatte Magdeburg einen geeigneten und dringend benötigten Königreichssaal.

      „In diesen Gebäuden findet nun heute die dritte Bestimmungsübergabe statt, erst in den 20er Jahren, dann 1948 und heute 1995“, bemerkte Peter Konschak bei der Einweihungsfeier. Willi Pohl, der das deutsche Zweigkomitee vertrat, hielt die Ansprache zur Bestimmungsübergabe. In jungen Jahren hatte er im Magdeburger Bethel gedient. Als Hayden Covington von der Weltzentrale 1947 zu Besuch kam und in ebendiesem Saal zu den Brüdern und Schwestern sprach, war Bruder Pohl sein Dolmetscher. „Ihr könnt euch vorstellen, wie mir bei dieser Ansprache zumute ist“, vertraute er den 450 geladenen Gästen an.

      Heute sind die verschiedenen Magdeburger Versammlungen, die sich regelmäßig in dem ehemaligen Harfensaal einfinden, ein lebendiger Beweis für die Zuverlässigkeit folgender Worte Jehovas an seine Diener, die Jesaja vor über 2 700 Jahren niederschrieb: „Welche Waffe es auch immer sei, die gegen dich gebildet sein wird, sie wird keinen Erfolg haben.“ Oder mit der Ermahnung Hiskias an seine Männer ausgedrückt: „Mit uns ist Jehova, unser Gott, um uns zu helfen und unsere Schlachten zu kämpfen“ (Jes. 54:17; 2. Chr. 32:8).

      Ein Übersetzungsbüro

      Bei den Arbeiten im deutschen Zweigbüro kommt dem Übersetzen eine bedeutende Rolle zu. Die deutsche Übersetzungsabteilung zog 1956 von Bern nach Wiesbaden um. Damals bestand sie aus lediglich 4 Personen. Alice Berner und Erika Surber (später: Köhler) aus dieser Gruppe arbeiteten treu bis zu ihrem Tod in dem Übersetzungsteam. Anny Surber, ebenfalls eine der ersten 4, dient immer noch in dieser Abteilung. Das Team ist im Lauf der Jahre größer geworden, so daß inzwischen nicht nur Der Wachtturm und das Erwachet!, sondern meistenteils auch gebundene Bücher für die deutschsprechenden Zeugen Jehovas gleichzeitig mit den englischen Publikationen erscheinen.

      Außer ins Deutsche wurde, beginnend mit den 60er Jahren, in Deutschland auch ins Russische und ins Polnische übersetzt. Zuständig dafür war die Auslandsdienstabteilung, die sich um das Werk in mehreren dem Verbot unterliegenden Ländern kümmerte, darunter die DDR, Polen und die Sowjetunion.

      Sowie die Möglichkeit bestand, wurden einige erfahrene Übersetzer aus Polen und eine Anzahl angehender Übersetzer aus der Sowjetunion nach Selters eingeladen. Dort hatten sie die notwendige Ausrüstung und auch ein angenehmes Arbeitsumfeld für ihre Weiterbildung. Sie konnten auch auf die Erfahrung der deutschen Übersetzer zurückgreifen, die hilfreiche Tips gaben, wie man Probleme löst, auf die alle Übersetzer ungeachtet der Sprache stoßen. Die Bethelfamilie in Selters hatte diese Übersetzer bald ins Herz geschlossen.

      Die Schulung war natürlich eine vorübergehende Sache. Mit der Zeit sollten die Übersetzer wieder in ihre Heimat zurückkehren. Nachdem also der neue Bethelkomplex bei Warschau (Polen) 1992 der Bestimmung übergeben worden war und die Übersetzer ein größeres Projekt beendet hatten, schlossen sich die polnischen Übersetzer in Deutschland dem Übersetzungsteam in Polen an.

      Sie waren noch nicht weg, da trafen bereits weitere voraussichtliche Übersetzer — Russen und Ukrainer — zur Schulung ein. Die ersten 5 fanden sich am 27. September 1991 ein, andere folgten. Insgesamt kamen über 30.

      Im Januar 1994 gingen die russischen Übersetzer weg, um das damals noch nicht fertiggebaute Bethel in Solnetschnoje unweit von St. Petersburg zu beziehen. Die ukrainischen Übersetzer dagegen sehen zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts ihrem baldigen Umzug in ein neues Bethelheim entgegen, das für die Ukraine geplant ist. Zwischenzeitlich haben auch noch andere Übersetzungsteams in Selters gearbeitet und von der dort gebotenen Hilfe profitiert. All das ruft einem immer wieder den Vorsatz Jehovas in den Sinn, Menschen „aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Zungen“ zu sammeln, um „eine neue Erde“ zu bilden — die Grundlage einer menschlichen Gesellschaft, die dem allein wahren Gott, Jehova, ergeben dient (Offb. 7:9, 10; 2. Pet. 3:13).

      Ein Ort für internationale Seminare

      Die günstige Lage des deutschen Zweigbüros lockt viele Besucher an. Frankfurt beansprucht für sich, durch den Rhein-Main-Flughafen das höchste Passagieraufkommen des europäischen Festlands zu haben. Da Selters nur etwa 60 Kilometer vom Frankfurter Flughafen entfernt liegt, machen viele Zeugen, auch wenn sie nur auf der Durchreise sind, liebend gern einen Abstecher dorthin, um die Gebäude zu besichtigen und kurz die Gastfreundschaft der Bethelfamilie zu genießen.

      Selters hat sich auch als günstiger Ort für internationale Seminare herausgestellt und für Zusammenkünfte, bei denen sich Beauftragte verschiedener Zweige miteinander beraten. So arrangierte das Verlagskomitee der leitenden Körperschaft 1992 ein 4tägiges Treffen von Beauftragten aus 16 europäischen Zweigen und Brüdern aus Brooklyn. Das Ziel war, die Arbeit so zu koordinieren, daß für alle Zweige Europas, einschließlich der wirtschaftlich benachteiligten Länder, ein großzügiger Vorrat an geistiger Speise bereitstehen würde.

      Schon davor haben Jehovas Zeugen in Deutschland allen, die ihre biblische Literatur gern lesen, Publikationen kostenfrei angeboten. Das straft mit Sicherheit die Behauptung von Gegnern Lügen, die Watch Tower Society würde gewinnbringend Literatur verkaufen.

      Nach dem Seminar in Selters dehnte man diese Vorgehensweise auf ganz Europa aus. Das ist besonders den Menschen in Osteuropa zugute gekommen, wo viele geistigen Hunger erkennen lassen, aber oft wirtschaftlich schlecht dastehen. Wie werden jedoch die Kosten für das weltweite Königreichswerk gedeckt? Durch unaufgeforderte Spenden von Zeugen Jehovas und anderen dankbaren Menschen. Und warum spenden sie? Manche tun es, weil sie sehen, wie wichtig es ist, so vielen wie möglich zu der Erkenntnis zu verhelfen, daß das Umsetzen biblischer Grundsätze schon heute die Lebensqualität hebt (Jes. 48:17; 1. Tim. 4:8). Andere motiviert der Wunsch, dazu beizutragen, daß die gute Botschaft von Gottes Königreich Menschen in allen Ländern erreicht, ehe Gott dem gegenwärtigen bösen System der Dinge ein Ende macht (Mat. 24:14).

      Ein zweites Seminar zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr 1992 drehte sich um das Vorhaben, vom deutschen Zweig aus Literatur direkt an die einzelnen Versammlungen in europäischen Ländern zu versenden statt wie bisher an die Zweigbüros, von wo aus die Literatur weitergeleitet wurde. Auf einem dritten Seminar im April 1993 regelte man alles so, daß dieses Verfahren in 6 zentraleuropäischen Ländern eingeführt wurde. Im Februar 1994 veranstaltete man in Wien ein Seminar für osteuropäische Länder, woraufhin die Neuerung auf weitere 19 Länder ausgedehnt wurde.

      Die Vorteile dieses Verfahrens sind offenkundig. Man spart Kosten ein, weil nicht in jedem Zweig Literatur gelagert werden muß. So erübrigen sich große Versandabteilungen in den einzelnen Ländern. In manchen Ländern wurde dadurch eine Erweiterung der bestehenden Betheleinrichtungen hinfällig. Und neue Bethelheime brauchen nicht mehr so groß gebaut zu werden, weil das Lagern, Verpacken und Versenden der Literatur in Deutschland erledigt wird.

      Im Jahr 1989 hatte der deutsche Zweig rund 2 000 Artikel in 59 Sprachen auf Lager, 1998 waren es im Vergleich dazu 8 900 Artikel in 226 Sprachen. Im April 1998 deckte der Zweig in Selters den Literaturbedarf von 742 144 Verkündigern in 8 857 Versammlungen in 32 Ländern.

      Haß auf wahre Christen — nicht nur in der Vergangenheit

      Am letzten Abend vor seinem Tod sagte Jesus Christus zu seinen Aposteln: „Weil ihr nun kein Teil der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt auserwählt habe, deswegen haßt euch die Welt. ... Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen“ (Joh. 15:19, 20). Man mußte also damit rechnen, daß die Verfolgung der Zeugen Jehovas in Deutschland selbst nach dem Zusammenbruch von Hitlers Drittem Reich nicht ganz und gar zum Stillstand käme. Auch dort, wo von kommunistischen Regimen erlassene Verbote abgeschafft wurden, haben die Menschen zwar generell mehr persönliche Freiheit, aber die Verfolgung der Zeugen Jehovas hat nicht aufgehört. Sie hat lediglich andere Formen angenommen (2. Tim. 3:12).

      An Stelle der früheren Verfolger des Volkes Jehovas traten jetzt Abtrünnige auf den Plan, um ihre ehemaligen christlichen Glaubensbrüder zu schlagen (Mat. 24:48-51). Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre machten diese Abtrünnigen stärker von sich reden und brachten immer mehr bösartige Anklagen vor. Moderatoren verschiedener Talk-Shows stellten die Abtrünnigen als „Experten“ für Jehovas Zeugen vor. Manche aufrichtige Menschen fanden es jedoch nicht richtig, Jehovas Zeugen auf Grund von Aussagen verärgerter Aussteiger zu beurteilen. Nach einer solchen Talk-Show rief ein junger Mann im Büro der Gesellschaft in Selters an und erzählte, der interviewte Zeuge habe vor ein paar Jahren mit ihm die Bibel studiert. Aus persönlichen Gründen hatte der junge Mann das Studium eingestellt. Als er nun die Fernsehsendung sah und seinen früheren Unterweiser wiedererkannte, reagierte er ziemlich ungehalten. Er fragte: „Wie kann er nur so etwas behaupten? Er weiß doch, daß das nicht stimmt, was er über die Zeugen sagt.“ Das Resultat war, daß der junge Mann sein Bibelstudium wiederaufnahm, diesmal mit einem Ältesten der Ortsversammlung.

      Selbstverständlich gibt es viele Leute, die grundsätzlich alles glauben, was sie im Fernsehen hören oder in der Zeitung lesen. Wegen der Häufigkeit solcher Attacken gegen Jehovas Zeugen in den Medien verfaßte die Gesellschaft eine 32seitige Broschüre speziell zu dem Zweck, diese Flut irreführender Propaganda einzudämmen. Betitelt ist sie Jehovas Zeugen — Menschen aus der Nachbarschaft. Wer sind sie?

      Die Broschüre enthält Fakten aus einer Umfrage von 1994, an der nahezu 146 000 Zeugen Jehovas in Deutschland teilnahmen. Die Ergebnisse widerlegen eindeutig viele falsche Auffassungen über die Zeugen. Eine Religion für alte Frauen? 4 von 10 Zeugen Jehovas in Deutschland sind männlichen Geschlechts, und das Durchschnittsalter liegt bei 44 Jahren. Eine Religion mit Anhängern, die man als Kind einer Gehirnwäsche unterzog? 52 Prozent sind als Erwachsene zu den Zeugen gegangen. Eine Religion, die Familien zerstört? 19 Prozent der Zeugen Jehovas sind unverheiratet, 68 Prozent verheiratet, 9 Prozent verwitwet und nur 4 Prozent geschieden, und von diesen wiederum war ein beträchtlicher Anteil bereits vor dem Übertritt zu den Zeugen Jehovas geschieden. Eine kinderfeindliche Religion? Fast 4 Fünftel der verheirateten Zeugen sind Eltern. Menschen mit unterdurchschnittlicher Intelligenz? Ein Drittel der Zeugen spricht mindestens eine Fremdsprache, und 69 Prozent informieren sich regelmäßig über das aktuelle Geschehen. Eine Religion, die ihren Anhängern die Freude am Leben nimmt? Im Lauf einer Woche bringt jeder Zeuge im Schnitt 14,2 Stunden mit verschiedenen Freizeitaktivitäten zu. Gleichzeitig räumen Jehovas Zeugen geistigen Belangen Priorität ein, denn sie setzen durchschnittlich 17,5 Stunden in der Woche für religiöse Aktivitäten ein.

      Ein Fall, dem in der Broschüre besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, handelt von dem „kleinen Oliver“. Kurz nach seiner Geburt im Jahr 1991 entdeckten Ärzte ein Loch in seinem Herzen. Olivers Mutter leitete zur gegebenen Zeit eine Operation in die Wege und suchte, entsprechend ihrer religiösen Überzeugung, Ärzte aus, die bereit waren, ohne Blut zu operieren. Gegner verdrehten jedoch die Tatsachen, um Jehovas Zeugen in Mißkredit zu bringen. Selbst nachdem die Operation erfolgreich ohne Bluttransfusion verlaufen war, brachte eine Zeitung den Fall groß heraus und stellte die Sache so hin, als sei Oliver trotz der Opposition einer „fanatischen“ Mutter durch „lebensrettendes Blut“ gerettet worden. Diese krasse Falschdarstellung wurde in der Broschüre widerlegt.

      Ursprünglich war die Broschüre nur für Personen gedacht, die Fragen hatten zu falschen Anklagen gegen die Zeugen. 1996 gestaltete man jedoch die Umschlagseite neu — auf der Rückseite wurde ein kostenloses Heimbibelstudium angeboten — und verbreitete 1 800 000 Exemplare in ganz Deutschland.

      Tatsachenmaterial für die Medien bereitgestellt

      Im selben Jahr unternahm man noch etwas gegen die unaufhörlichen Versuche von Gegnern, mit Hilfe der Medien Jehovas Zeugen verzerrt darzustellen. Walter Köbe wurde zum Vorsitzenden eines Komitees ernannt, das für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Er erklärt: „Die massive Kampagne unserer Gegner hat eine kontrollierte Entgegnung in Form zugänglicher Informationen erforderlich gemacht.“ Man suchte Mitarbeiter, die für eine effektive Öffentlichkeitsarbeit in Frage kämen. In Seminaren wurden sie geschult. Das Land wurde in 22 Regionen aufgeteilt, und 1998 gab es Hunderte geschulte Mitarbeiter, die in den jeweiligen Regionen anfallende Aufgaben wahrnahmen. Großen Wert legt man auf persönlichen Kontakt mit Redakteuren und Journalisten.

      Die Arbeit dieser Abteilung umfaßt auch die Vorbereitung öffentlicher Aufführungen der Videodokumentation Standhaft trotz Verfolgung — Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime. Die Welturaufführung der deutschen Fassung fand am 6. November 1996 in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück statt, wo viele Zeugen Jehovas interniert waren. Die Presse und namhafte Historiker waren zugegen.

      Bis zum 1. September 1998 waren bei den 331 öffentlichen Aufführungen des Videos insgesamt mehr als 269 000 Besucher gezählt worden. Das Publikum setzte sich nicht nur aus Zeugen Jehovas zusammen, sondern auch aus Vertretern der Presse, der Regierung und der Öffentlichkeit. Hunderte von Zeitungen berichteten in durchweg positiven Artikeln über die Veranstaltungen. 176 dieser Videopräsentationen waren von einer öffentlichen Ausstellung über die NS-Verfolgung der Zeugen Jehovas begleitet.

      Immer mehr Medienvertreter gehen mit der Aussage eines Journalisten einig, der im November 1993 in der Meißner Zeitung schrieb: „Wer also der Auffassung ist, Jehovas Zeugen folgten blind oder leichtgläubig irgendwelchen Lehren der Bibel ohne Lebensnähe, wird überrascht sein zu erfahren, wie genau sie über die Kenntlichmachung ihres Vorbildes Jesus Christus Bescheid wissen und diese Kenntnis in ein sinnvolles Leben umsetzen können.“

      Nach einem halben Jahrhundert immer noch standhaft

      Über ein halbes Jahrhundert ist ins Land gegangen, seit Jehovas Zeugen in Deutschland aus den Konzentrationslagern freikamen. Doch die Chronik ihrer Lauterkeit liegt nicht in vergessener Geschichte begraben. Sie legt immer noch machtvoll vor der Welt Zeugnis ab. Einige, die wegen ihrer kompromißlosen Überzeugung im KZ waren, sind zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Berichts noch am Leben, und ihr Eifer für den Dienst Jehovas ist ungebrochen. Ihre mutige Haltung bezeugt, daß Jehova sein Volk bewahren kann. Hören wir uns einmal an, was einige der KZ-Überlebenden stellvertretend für Hunderte von ihnen gesagt haben, und übersehen wir nicht ihr in Klammern angegebenes Alter (Stand: Anfang 1998):

      Heinrich Dickmann (95): „In Sachsenhausen mußte ich zuschauen, wie mein Bruder August vor dem ganzen versammelten Lager erschossen wurde. Mir wurde die Gelegenheit geboten, sofort entlassen zu werden, wenn ich von meinem Glauben ablassen würde. Weil ich keine Kompromisse einging, sagte der Kommandant: ‚Kannst dir überlegen, wie lange du noch lebst.‘ Er war 5 Monate später tot. Mein Wahlspruch war ‚Vertraue auf Jehova mit deinem ganzen Herzen‘. Das gilt für mich heute noch.“

      Änne Dickmann (89): „Heute sehe ich es [das Geschehen im KZ] für mich als eine Schulung an für die Bewahrung der Lauterkeit gegenüber unserem großen Schöpfer und Lebengeber, Jehova, denn alle Erlebnisse haben mich bereichert und meinem Gott nähergebracht. Mein Glaube und meine Liebe zu Gott war die Triebfeder in all den Jahren, wozu mich niemand drängte.“

      Josef Rehwald (86): „Ich blicke auf die Zeit der schweren Prüfungen mit Genugtuung zurück, weil ich trotz des Drucks und der damit verbundenen Leiden meinen christlichen Glauben und meine Neutralität bewahrt habe. Heute ist meine christliche Überzeugung noch fester, und es ist mein Wunsch, weiterhin kompromißlos auf Gottes Seite zu stehen.“

      Elfriede Löhr (87): „Wenn ich über all das nachdenke, was ich während meiner 8jährigen Haftzeit unter dem Hitlerregime erlebt habe, so war mir klar, daß der Weg der Wahrheit einerseits Kampf und Verfolgung bedeutet, andererseits aber auch Freude und Sieg. Ich sehe diese Zeit nicht als Zeitverlust oder vergeblich an.“

      Maria Hombach (97): „Ich bin immer noch vor lauter Freude überglücklich, eine solch einmalige Gelegenheit gehabt zu haben, Jehova meine Liebe und Dankbarkeit selbst unter grausamen Verhältnissen zu beweisen. Niemand drängte mich dazu! Im Gegenteil! Unsere Feinde bedrängten uns unter Drohungen. Sie wünschten uns zu zwingen, Hitler mehr zu gehorchen als Gott. Erfolglos! Ich bin deshalb nicht nur heute sehr glücklich, sondern war es auch hinter Gefängnismauern dank eines guten Gewissens.“

      Gertrud Pötzinger (86): „Ich wurde zu dreieinhalb Jahren Einzelhaft verurteilt. Der Gerichtsdiener sagte nach dem Urteil des Gerichts zu mir, während er mich ins Gefängnis zurückbrachte: ‚Ich danke Ihnen. Sie haben mich angeregt, doch wieder an Gott zu glauben. Wenn Sie weiter so tapfer sind, werden Sie die dreieinhalb Jahre leicht ertragen.‘ In der Tat erlebte ich besonders in der Zeit der Einzelhaft Gottes Liebe und Kraft.“

      Ja, die KZ-Überlebenden sind nach wie vor standhaft. Heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Befreiung, spricht ihr integrer Lebenslauf immer noch als Zeuge zur Welt und preist Jehova. Was für ein Ansporn für alle Diener Gottes!

      Mit dem Predigen der guten Botschaft ist es in Deutschland noch nicht vorbei. Seit dem Ende des 2. Weltkriegs wurden hier über 800 000 000 Stunden dafür aufgewandt, mit anderen über Gottes Königreich zu sprechen. Gleichzeitig hat der Predigtdienst der Zeugen Jehovas in Deutschland auch auf das Leben von Menschen in vielen anderen Ländern hinübergewirkt. Man betrachtet sich nicht als separate nationale Gruppe, sondern als Teil einer globalen Familie von Anbetern Jehovas, des allein wahren Gottes.

      Ein auffälliger Beweis der weltweiten Einheit waren die 5 internationalen Kongresse „Gottes Weg des Lebens“, die 1998 in Deutschland stattfanden und von 217 472 Personen besucht wurden. Es kamen Delegierte aus vielen Ländern, und das gesamte Programm wurde in 13 Sprachen dargeboten. Die Kongresse betonten, wie wichtig es ist, treu zu bleiben und beharrlich die gute Botschaft zu predigen. Jehovas Zeugen in Deutschland sind entschlossen, mit der Hilfe Jehovas loyal Gottes Weg des Lebens zu gehen.

  • Deutschland
    Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1999
    • [Bild auf Seite 69]

      Internationaler Kongreß „Triumphierendes Königreich“ (Nürnberg, 1955)

      [Bilder auf Seite 73]

      Deutsche Zeugen haben vielen Ausländern die biblische Wahrheit nähergebracht

      [Bild auf Seite 88]

      Bethelkomplex in Wiesbaden (1980)

      [Bild auf Seite 90]

      Zweigkomitee (von links nach rechts); vorn: Günter Künz, Edmund Anstadt, Ramon Templeton, Willi Pohl; hinten: Eberhard Fabian, Richard Kelsey, Werner Rudtke, Peter Mitrega

      [Bilder auf Seite 95]

      Einige der 10 Kongreßsäle in Deutschland:

      1 Glauchau

      2 Reutlingen

      3 München

      4 Meckenheim

      5 Berlin

      [Bild auf Seite 99]

      Martin und Gertrud Pötzinger

      [Bilder auf Seite 100, 101]

      Zweiggebäude in Selters

      [Bilder auf Seite 102]

      Einige Deutsche, die im Ausland Missionare sind: (1) Manfred Tonak, (2) Margarita Königer, (3) Paul Engler, (4) Karl Sömisch, (5) Günter Buschbeck

      [Bilder auf Seite 110]

      Sobald irgendwo in Osteuropa ein Verbot aufgehoben wurde, gingen große Mengen Literatur auf die Reise

      [Bilder auf Seite 118]

      Berliner Kongreß (1990)

      [Bilder auf Seite 124]

      Der erste Königreichssaal in der ehemaligen DDR

      [Bilder auf Seite 132, 133]

      Das Programm zur Bestimmungsübergabe — zuerst in Selters (siehe oben), dann landesweit in 6 Stadien

      [Bild auf Seite 139]

      Mittel, um einer Flut von Fehlinformationen entgegenzuwirken

      [Bilder auf Seite 140, 141]

      In den Konzentrationslagern (wo Jehovas Zeugen durch einen lila Winkel gekennzeichnet waren) blieben diese loyalen Christen (hier in Brandenburg, 1995) im Glauben fest

      [Bilder auf Seite 147]

      Andere Seite, im Uhrzeigersinn: Heinrich Dickmann, Änne Dickmann, Gertrud Pötzinger, Maria Hombach, Josef Rehwald, Elfriede Löhr

  • Deutschland
    Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1999
    • [Bild auf Seite 139]

      Mittel, um einer Flut von Fehlinformationen entgegenzuwirken

      [Bilder auf Seite 140, 141]

      In den Konzentrationslagern (wo Jehovas Zeugen durch einen lila Winkel gekennzeichnet waren) blieben diese loyalen Christen (hier in Brandenburg, 1995) im Glauben fest

      [Bilder auf Seite 147]

      Andere Seite, im Uhrzeigersinn: Heinrich Dickmann, Änne Dickmann, Gertrud Pötzinger, Maria Hombach, Josef Rehwald, Elfriede Löhr

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