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  • Jehovas Zeugen — Die chirurgisch/ethische Herausforderung
    Wie kann Blut dein Leben retten?
    • und der Kreislauf außerhalb des Körpers nicht unterbrochen wird; der Arzt sollte sich bei dem jeweiligen Patienten nach dessen Gewissensentscheidung erkundigen.2

      Die Zeugen sind nicht der Meinung, daß die Bibel direkt etwas über Organverpflanzungen sagt; daher müssen Entscheidungen über Hornhaut-, Nieren- oder andere Gewebetransplantationen von dem einzelnen Zeugen getroffen werden.

      GROSSE CHIRURGISCHE EINGRIFFE MÖGLICH

      Obwohl es Chirurgen oft abgelehnt haben, Zeugen zu behandeln, weil durch deren Einstellung zur Verwendung von Blutprodukten „dem Arzt die Hände gebunden“ schienen, vertreten heute viele Ärzte die Ansicht, daß es sich dabei lediglich um eine zusätzliche Schwierigkeit handelt, die eine besonders hohe Anforderung an ihr Können stellt. Da die Zeugen nichts gegen Salzlösungen oder kolloidale Ersatzflüssigkeiten, Elektrokaustik, hypotone Anästhesie3 oder Hypothermie einwenden, sind diese Verfahren erfolgreich praktiziert worden. Gegenwärtige und künftige Anwendungen von Hydroxyäthylstärke4, intravenösen Eisendextraninjektionen hoher Dosis5, 6 und des Ultraschallskalpells7 sind vielversprechend und stoßen auf keine religiösen Einwände. Und wenn sich der neuentwickelte Fluorkohlenwasserstoff Fluosol-DA8 als ein sicherer und wirksamer Blutersatzstoff erweist, wird seine Verwendung dem Glauben der Zeugen nicht entgegenstehen.

      Im Jahre 1977 berichteten D. A. Ott und D. A. Cooley9 über 542 Herzkranzgefäßoperationen, die ohne Bluttransfusion an Zeugen vorgenommen wurden, und schlußfolgerten, daß diese Operationen „mit einem annehmbar geringen Risiko“ durchgeführt werden könnten. In Erwiderung auf unsere Anfrage hielt Cooley vor kurzem einen statistischen Rückblick auf 1 026 Operationen, davon 22 Prozent an Minderjährigen, und kam zu dem Schluß, „daß das Risiko bei Operationen an Patienten aus der Gruppe der Zeugen Jehovas im Grunde nicht größer ist als bei anderen“. Michael E. DeBakey, M. D., teilte mit, „daß in der Mehrzahl der Fälle [von Zeugen Jehovas] das Risiko einer Operation ohne Bluttransfusionen nicht größer ist als bei Patienten, denen wir Blut übertragen“ (persönliche Mitteilung, März 1981). Veröffentlichungen berichten auch von erfolgreichen größeren urologischen10 und orthopädischen Operationen11. G. Dean MacEwen, M. D., und J. Richard Bowen, M. D., schrieben, daß hintere Wirbelfusionen „erfolgreich an 20 minderjährigen Zeugen vorgenommen wurden“ (unveröffentlichte Quelle, August 1981). Sie fügten hinzu: „Der Chirurg muß die Philosophie entwickeln, das Recht des Patienten, eine Bluttransfusion zu verweigern, zu respektieren und dennoch chirurgische Eingriffe auf eine Weise vorzunehmen, die dem Patienten Sicherheit bietet.“

      H. Herbsman12 berichtet über Erfolge bei einer Anzahl von Fällen (Jugendliche eingeschlossen) „mit enormem Blutverlust infolge von Unfällen“. Er räumt ein, daß die „Zeugen etwas im Nachteil sind, was die Bedingungen für das Blut anbelangt. Dessenungeachtet ist es völlig klar, daß wir Alternativen zur Bluttransfusion haben.“ Er macht die Beobachtung, daß viele Chirurgen aus „Furcht vor rechtlichen Folgen“ davor zurückschrecken, Zeugen als Patienten anzunehmen. Aber er zeigt, daß das keine berechtigte Sorge ist.

      RECHTLICHE BEDENKEN BEI MINDERJÄHRIGEN

      Die Zeugen unterzeichnen bereitwillig das Formular der Medizinischen Gesellschaft Amerikas, das die Ärzte und das Krankenhaus von der Haftung13 befreit, und die meisten Zeugen Jehovas tragen eine datierte, zusätzlich von zwei anderen unterschriebene Karte bei sich, die in Zusammenarbeit mit medizinischen und juristischen Experten entstanden ist. Diese Dokumente sind für den Patienten (oder seine Hinterbliebenen) verbindlich und bieten den Ärzten Schutz, denn Richter Warren Burger erklärte, ein Verfahren wegen standeswidrigen Verhaltens würde in einem Fall, in dem eine Verweigerungserklärung unterzeichnet worden sei, „unbegründet erscheinen“. Zudem äußerte sich J. J. Paris14 in einer Analyse „aufgezwungener medizinischer Behandlung und religiöser Freiheit“ wie folgt: „Ein Kommentator, der die Literatur überprüfte, berichtete: ‚Ich habe keinen einzigen Beleg für die Behauptung gefunden, der Arzt mache sich durch sein Versäumnis, einem unwilligen Patienten eine Transfusion aufzuzwingen, strafbar.‘ Das Risiko scheint eher das Produkt eines phantasievollen Rechtsgeistes als eine realistische Möglichkeit zu sein.“

      Die Haftung für Minderjährige stellt das größte Problem dar. Oft führt es zu Gerichtsverfahren gegen die Eltern aufgrund vernachlässigter Sorgepflicht. Doch derartige Maßnahmen werden von vielen Ärzten und Rechtsanwälten in Frage gezogen, die mit solchen Fällen vertraut sind und glauben, daß die Zeugen für eine gute medizinische Behandlung ihrer Kinder sorgen. Da sie nicht darauf aus sind, sich vor der elterlichen Verantwortung zu drücken oder sie einem Richter oder jemand anders zu überlassen, dringen die Zeugen darauf, daß die religiösen Grundsätze der Familie berücksichtigt werden. Dr. A. D. Kelly, ehemaliger Sekretär der Medizinischen Gesellschaft Kanadas, schrieb: „Die Eltern von Minderjährigen und die nächsten Angehörigen bewußtloser Patienten haben das Recht, den Willen des Patienten darzulegen. ... Ich bewundere nicht das Vorgehen eines Gerichts, das sich um 2 Uhr nachts versammelt, um ein Kind der Obhut seiner Eltern zu entreißen.“15

      Es ist selbstverständlich, daß die Eltern bei der Behandlung ihrer Kinder ein Mitspracherecht haben, wenn es zum Beispiel um das Verhältnis zwischen Risiko und Nutzen einer Operation, einer Bestrahlung oder Chemotherapie geht. Aus moralischen Gründen, die über die Frage des Transfusionsrisikos16 hinausgehen, bitten die Zeugen darum, an ihrem Kind eine Behandlung vorzunehmen, gegen die keine religiösen Einwände bestehen. Das stimmt mit dem medizinischen Grundsatz der Behandlung des „ganzen Menschen“ überein, wobei man nicht die möglichen bleibenden psychischen und sozialen Schäden eines Verfahrens übersieht, das die grundlegenden Glaubensauffassungen einer Familie verletzt. Im ganzen Land werden jetzt häufig in großen Zentren, die mit den Zeugen Erfahrungen haben, Patienten — selbst wenn es sich um Kinder handelt — aus Institutionen übernommen, die nicht bereit sind, Zeugen zu behandeln.

      DIE HERAUSFORDERUNG AN DEN ARZT

      Es ist verständlich, daß die Behandlung von Zeugen Jehovas ein Dilemma für den Arzt mit sich zu bringen scheint, der sich der Erhaltung des Lebens und der Gesundheit verpflichtet fühlt, indem er alle ihm zur Verfügung stehenden Verfahren einsetzt. In der Einleitung einer Artikelserie über größere Operationen an Zeugen räumte J. P. Harvey17 ein: „Ich ärgere mich über die Glaubensansichten, die meine Arbeit stören könnten.“ Aber er fügte hinzu: „Vielleicht vergessen wir zu schnell, daß die Chirurgie eine Kunst ist, die von den persönlichen Fertigkeiten einzelner abhängt. Fertigkeiten können verbessert werden.“

      Professor Bolooki18 sprach von einem beunruhigenden Bericht, der besage, daß eines der größten Unfallkrankenhäuser in der Dade County (Florida, USA) „von vornherein die Behandlung“ von Zeugen Jehovas ablehne. Er wies darauf hin, daß „bei dieser Gruppe von Patienten die meisten chirurgischen Eingriffe mit einem geringeren Risiko verbunden sind als sonst“. Er führte weiter aus: „Obwohl die Chirurgen meinen mögen, daß sie eines Instrumentes der modernen Medizin beraubt werden, ... bin ich davon überzeugt, daß sie, wenn sie diese Patienten operieren würden, eine Menge lernen würden.“

      Statt die Behandlung von Patienten, die Zeugen Jehovas sind, als Problem zu betrachten, sehen immer mehr Ärzte die Situation als eine medizinische Herausforderung an. Um der Herausforderung zu begegnen, haben sie für diese Patientengruppe eine Verfahrensweise entwickelt, die in zahlreichen medizinischen Zentren des ganzen Landes akzeptiert wird. Diese Ärzte sorgen dadurch für eine Behandlung, die dem allgemeinen Wohlbefinden des Patienten am meisten nützt. B. Gardner19 machte die Beobachtung: „Wem würde es etwas nützen, wenn das körperliche Gebrechen des Patienten geheilt, aber sein geistiges Leben für Gott seiner Meinung nach geschädigt und er demzufolge ein Leben führen würde, das sinnlos und vielleicht schlimmer als der Tod wäre?“

      Die Zeugen erkennen, daß ihre standhaft vertretene Überzeugung, medizinisch gesehen, die Behandlung riskanter und komplikationsreicher macht. Demzufolge bringen sie im allgemeinen ungewöhnliche Wertschätzung für ihre Behandlung zum Ausdruck. Außer daß sie den Vorzug eines starken Glaubens und Lebenswillens haben, arbeiten sie gern mit den Ärzten und dem Krankenhauspersonal zusammen. Somit stehen der Patient und der Arzt vereint dieser einzigartigen Herausforderung gegenüber.

      Quellenverzeichnis

      1 Jehovas Zeugen und die Blutfrage, Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft, 1977, S. 1—64.

      2 Der Wachtturm, 1. 10. 1978, S. 30—32.

      3 Hypotensive anesthesia facilitates hip surgery, MEDICAL NEWS. JAMA, 1978; 239:181.

      4 Hetastarch (Hespan)—a new plasma expander. Med Lett Drugs Ther, 1981; 23:16.

      5 R. D. Hamstra, M. H. Block, A. L. Schocket: Intravenous iron dextran in clinical medicine. JAMA, 1980; 243:1726—1731.

      6 R. Lapin: Major surgery in Jehovah’s Witnesses. Contemp Orthop, 1980; 2:647—654.

      7 M. L. Fuerst: ‘Sonic scalpel’ spares vessels. Med Trib, 1981; 22:1, 30.

      8 E. R. Gonzáles: The saga of ‘artificial blood’; Fluosol a special boon to Jehovah’s Witnesses. JAMA, 1980; 243:719—724.

      9 D. A. Ott, D. A. Cooley: Cardiovascular surgery in Jehovah’s Witnesses. JAMA, 1977; 238:1256—1258.

      10 P. R. Roen, F. Velcek: Extensive urologic surgery without blood transfusion. NY State J Med, 1972; 72:2524—2527.

      11 C. L. Nelson, K. Martin, N. Lawson et al.: Total hip replacement without transfusion. Contemp Orthop, 1980; 2:655—658.

      12 H. Herbsman: Treating the Jehovah’s Witness. Emerg Med, 1980; 12:73—76.

      13 Medicolegal Forms With Legal Analysis. Chicago, American Medical Association, 1976, S. 83.

      14 J. J. Paris: Compulsory medical treatment and religious freedom: Whose law shall prevail? Univ San Francisco Law Rev, 1975; 10:1—35.

      15 A. D. Kelly: Aequanimitas. Can Med Assoc J, 1967; 96:432.

      16 J. Kolins: Fatalities from blood transfusion. JAMA, 1981; 245:1120.

      17 J. P. Harvey: A question of craftsmanship. Contemp Orthop, 1980; 2:629.

      18 H. Bolooki: Treatment of Jehovah’s Witnesses: Example of good care. Miami Med, 1981; 51:25, 26.

      19 B. Gardner, J. Bivona, A. Alfonso et al.: Major surgery in Jehovah’s Witnesses. NY State J Med, 1976; 76:765, 766.

  • Blut: Wessen Entscheidung und wessen Gewissen?
    Wie kann Blut dein Leben retten?
    • Anhang

      Blut: Wessen Entscheidung und wessen Gewissen?

      J. Lowell Dixon, M. D.

      Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des New York State Journal of Medicine, 1988; 88:463—464, Copyright by Medical Society of the State of New York. Nachstehend die deutsche Übersetzung.

      ÄRZTE sind verpflichtet, ihre Kenntnisse, ihre Fähigkeiten und ihre Erfahrung im Kampf gegen Krankheit und Tod einzusetzen. Doch was, wenn ein Patient eine empfohlene Behandlung ablehnt? Das wird wahrscheinlich der Fall sein, wenn der Patient ein Zeuge Jehovas ist und bei der Behandlung Vollblut, Erythrozytenkonzentrate, Plasma oder Blutplättchen verwendet werden sollen.

      Sofern es um den Gebrauch von Blut geht, mag ein Arzt der Meinung sein, dem engagierten Mediziner seien die Hände gebunden, wenn sich der Patient für eine Behandlung ohne Blut entscheidet. Man darf jedoch nicht vergessen, daß sich auch Patienten, die keine Zeugen Jehovas sind, häufig gegen die Vorschläge ihres Arztes entscheiden. Gemäß Appelbaum und Roth1 lehnten 19 Prozent der Patienten in Lehrkrankenhäusern zumindest eine Behandlung oder ein Verfahren ab, und das, obwohl 15 Prozent der Ablehnungen „potentiell lebensgefährlich waren“.

      Aufgrund der allgemeinen Ansicht „Der Arzt weiß es schon am besten“ beugen sich die meisten Patienten den Fähigkeiten und Kenntnissen ihres Arztes. Doch wie gefährlich wäre es, wenn der Arzt diese Ansicht als feststehende Tatsache betrachten und die Patienten dementsprechend behandeln würde! Unsere medizinische Ausbildung, die Approbation und unsere Erfahrung verschaffen uns auf medizinischem Gebiet zwar beachtenswerte Privilegien, aber unsere Patienten haben Rechte. Und wie uns sicherlich bewußt ist, mißt das Gesetz (ebenso wie die Verfassung) den Rechten größeren Wert bei.

      In den meisten Krankenhäusern hängen die „Rechte der Patienten“ aus. Eines davon ist das Recht, nach hinreichender Aufklärung in eine Art der Behandlung einzuwilligen oder nicht; man könnte es auch korrekter als das Recht, sich nach hinreichender Aufklärung für eine Art der Behandlung zu entscheiden, bezeichnen. Nachdem der Patient über die möglichen Folgen der verschiedenen Behandlungen (oder der Nichtbehandlung) informiert worden ist, muß er selbst entscheiden. In einem Merkblatt des Albert-Einstein-Krankenhauses in der Bronx (New York) über Bluttransfusionen und Zeugen Jehovas heißt es: „Jeder geschäftsfähige volljährige Patient hat das Recht, eine Behandlung abzulehnen, ungeachtet wie abträglich das seiner Gesundheit sein könnte.“2

      Während Ärzte besorgt von Ethik und Haftung sprechen mögen, haben Gerichte die Entscheidung des Patienten als vorrangig hervorgehoben.3 Das Berufungsgericht von New York erklärte: „Das Recht des Patienten, die Art seiner Behandlung zu bestimmen, ist übergeordnet ... [Ein] Arzt kann nicht beschuldigt werden, seine Gesetzes- oder Standespflichten verletzt zu haben, wenn er das Recht eines geschäftsfähigen volljährigen Patienten, eine Behandlung abzulehnen, respektiert.“4 Das Gericht stellte außerdem fest, daß „die ethische Integrität des Arztberufes zwar wichtig ist, aber nicht über den hier zu verteidigenden fundamentalen Rechten des einzelnen steht. Ausschlaggebend sind die Bedürfnisse und Wünsche des einzelnen und nicht die Forderungen der Institution.“5

      Ärzten mag das Gewissen schlagen, wenn sie aufgrund der Weigerung eines Zeugen, Blut anzunehmen, anscheinend nicht das Bestmögliche tun können. Worum der Zeuge die gewissenhaften Ärzte jedoch bittet, ist die beste Alternativbehandlung unter den gegebenen Umständen. Wir müssen häufig unsere Therapie den Umständen anpassen, etwa bei Bluthochdruck, heftigen Antibiotikaallergien oder wenn eine bestimmte kostspielige Ausrüstung nicht verfügbar ist. Ärzte, die einen Zeugen behandeln, stehen vor der Aufgabe, die Probleme bei der Behandlung oder der Operation in Übereinstimmung mit dem Gewissen des Patienten und seiner moralisch/religiös geprägten Entscheidung, sich des Blutes zu enthalten, zu bewältigen.

      Zahlreiche Berichte über größere Operationen an Zeugen zeigen, daß viele Ärzte mit gutem Gewissen auf die Bitte, kein Blut zu verwenden, eingehen können und dennoch erfolgreich sind. Beispielsweise hielt Cooley 1981 einen Rückblick auf 1 026 Herzkranzgefäßoperationen, davon 22 Prozent an Minderjährigen. Er kam zu dem Schluß, „daß das Risiko bei Operationen an Patienten aus der Gruppe der Zeugen Jehovas im Grunde nicht größer ist als bei anderen“.6 Kambouris7 berichtete von größeren Operationen an Zeugen, von denen einigen „dringend benötigte Operationen verwehrt worden waren, weil sie Blut ablehnten“. Er sagte: „Allen Patienten wurde vor der Behandlung zugesichert, daß ihr Glaube respektiert würde, ungeachtet dessen, was im Operationssaal geschähe. Diese Verfahrensweise hatte keine ungünstigen Auswirkungen.“

      Ist der Patient ein Zeuge Jehovas, spielt außer der Frage der Entscheidung auch das Gewissen eine Rolle. Man darf nicht nur an das Gewissen des Arztes denken. Wie steht es um dasjenige des Patienten? Jehovas Zeugen betrachten das Leben als ein Geschenk Gottes, das durch das Blut dargestellt wird. Sie nehmen das biblische Gebot ernst, daß sich Christen des Blutes enthalten sollten (Apostelgeschichte 15:28, 29).8 Wenn somit ein Arzt den Patienten bevormundet und dessen tiefverwurzelten Glaubensansichten Gewalt antut, kann das verhängnisvolle Folgen haben. Jemanden zu zwingen, sein Gewissen zu vergewaltigen, beurteilte Papst Johannes Paul II. als „den schwersten Schlag gegen die Würde des Menschen. In einem gewissen Sinne ist es verwerflicher, als jemandes physischen Tod herbeizuführen, ja als Mord.“9

      Während Jehovas Zeugen Blut aus religiösen Gründen ablehnen, entscheiden sich immer mehr Patienten, die keine Zeugen sind, wegen Aids, Non-A-non-B-Hepatitis, Immunreaktionen oder anderer Risiken gegen Blut. Wir mögen ihnen unsere Ansicht darüber darlegen, inwiefern der Nutzen die Risiken aufwiegt. Doch der Patient muß gemäß der amerikanischen Ärztevereinigung „das letzte Wort darüber haben, ob er die Risiken einer Behandlung oder Operation, die ihm von einem Arzt empfohlen worden ist, auf sich nehmen will oder ob er es riskiert, sich nicht behandeln zu lassen. Das ist das natürliche Recht des einzelnen, das gesetzlich anerkannt ist.“10

      Diesbezüglich brachte Macklin11 die Risiko-Nutzen-Frage in Verbindung mit einem Zeugen zur Sprache, „der das Risiko einging, ohne Bluttransfusion zu verbluten“. Ein Medizinstudent sagte: „Sein Denkvermögen war intakt. Wie ist es einzuschätzen, wenn religiöse Ansichten gegen die einzig mögliche Behandlungsmethode sprechen?“ Macklin erklärte: „Wir mögen fest davon überzeugt sein, daß dieser Mann einen Fehler beging. Aber Jehovas Zeugen sind der Ansicht, daß eine Transfusion ... [möglicherweise] zu ewiger Verdammung führt. In der Medizin fällt es uns nicht schwer, das Risiko gegen den Nutzen abzuwägen; stellt man jedoch ewige Verdammung dem Weiterleben auf der Erde gegenüber, hat die Beurteilung aus einem anderen Gesichtswinkel zu erfolgen.“

      Vercillo und Duprey12 lenken in der vorliegenden Ausgabe des Journals die Aufmerksamkeit auf die Sorge um die Sicherheit der Familienangehörigen, wobei sie den Fall Osborne ansprechen. Doch wie wurde dieser entschieden? Es ging hierbei um den schwerverletzten Vater zweier minderjähriger Kinder. Das Gericht stellte fest, daß im Todesfall Angehörige für die materiellen und geistigen Bedürfnisse der Kinder sorgen würden. Daher sah das Gericht wie in anderen Fällen in letzter Zeit13 keine zwingende Notwendigkeit, sich im Interesse des Staates über die Entscheidung des Patienten hinwegzusetzen. Ein gerichtliches Vorgehen mit dem Zweck, eine Behandlung, die diesem zutiefst zuwider war, durchzusetzen, schien nicht gerechtfertigt.14 Der Patient wurde anders behandelt, erholte sich wieder und konnte weiter für seine Familie sorgen.

      Konnten nicht die allermeisten Fälle, denen sich Ärzte gegenübersahen, ohne Blut behandelt werden, und wird das nicht auch zukünftig so sein? Das, was wir gelernt haben und worüber wir bestens Bescheid wissen, hat mit der medizinischen Seite zu tun, doch sind die Patienten Menschen, deren individuelle Wertvorstellungen und Ziele nicht ignoriert werden dürfen. Sie kennen am besten ihr Gewissen, ihre Prioritäten und ihre Moralvorstellungen, die ihrem Leben Sinn verleihen.

      Das religiöse Gewissen von Patienten, die Zeugen Jehovas sind, zu respektieren mag eine Herausforderung an unsere Fähigkeiten sein. Wenn wir uns jedoch dieser Herausforderung stellen, unterstreichen wir den Wert der Freiheiten, die wir alle schätzen. John Stuart Mill schrieb treffend: „Keine Gesellschaft, die diese Freiheiten nicht vollständig respektiert, ist frei, ungeachtet welche Herrschaftsform sie hat ... Jeder ist der geeignete Wächter seiner eigenen Gesundheit, ob körperlich, psychisch oder geistig. Die Menschheit gewinnt eher dadurch, daß jeder den anderen so leben läßt, wie es diesem gut erscheint, als dadurch, daß man jeden zwingt, so zu leben, wie es den anderen gut erscheint.“15

      Quellenverzeichnis

      1 Appelbaum PS, Roth LH: Patients who refuse treatment in medical hospitals. JAMA, 1983; 250:1296—1301.

      2 Macklin R: The inner workings of an ethics committee: Latest battle over Jehovah’s Witnesses. Hastings Cent Rep 1988; 18(1):15 bis 20.

      3 Bouvia v Superior Court, 179 Cal App 3d 1127, 225 Cal Rptr 297 (1986); In re Brown, 478 So 2d 1033 (Miss 1985).

      4 In re Storar, 438 NYS 2d 266, 273, 420 NE 2d 64, 71 (NY 1981).

      5 Rivers v Katz, 504 NYS 2d 74, 80 n 6, 459 NE 2d 337, 343 n 6 (NY 1986).

      6 Dixon JL, Smalley MG: Jehovah’s Witnesses. The surgical/ethical challenge. JAMA, 1981; 246:2471, 2472.

      7 Kambouris AA: Major abdominal operations on Jehovah’s Witnesses. Am Surg 1987; 53:350—356.

      8 Jehovas Zeugen und die Blutfrage, Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft (1977), S. 1—64.

      9 Pope denounces Polish crackdown. NY Times, 11. 1. 1982, S. A⁠9.

      10 Office of the General Counsel: Medicolegal Forms with Legal Analysis. Chicago, American Medical Association, 1973, S. 24.

      11 Kleiman D: Hospital philosopher confronts decisions of life. NY Times, 23. 1. 1984, S. B1, B3.

      12 Vercillo AP, Duprey SV: Jehovah’s Witnesses and the transfusion of blood products. NY State J Med 1988; 88:493, 494.

      13 Wons v Public Health Trust, 500 So 2d 679 (Fla Dist Ct App) (1987); Randolph v City of New York, 117 AD 2d 44, 501 NYS 2d 837 (1986); Taft v Taft, 383 Mass 331, 446 NE 2d 395 (1983).

      14 In re Osborne, 294 A 2d 372 (Dc Ct App 1972).

      15 Mill JS: On liberty, in Adler MJ (ed): Great Books of the Western World. Chicago, Encyclopaedia Britannica, Inc, 1952, Band 43, S. 273.

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