„Herr, öffne dem König von England die Augen“
ER WURDE im August 1536 als ein Ketzer verurteilt. Aber erst im Oktober jenes Jahres wurde er auf den Scheiterhaufen gebracht. Seine letzten Worte, die er mit lauter Stimme äußerte, bevor er erdrosselt und verbrannt wurde, waren: „Herr, öffne dem König von England die Augen.“
Der Mann, der diese Worte sprach, war William Tyndale. Warum wurde er als ein Ketzer verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt? Was hatten die Augen des Königs von England nicht wahrgenommen? Und welche wertvolle Lehre könnten wir aus dem ziehen, was Tyndale widerfuhr? Um diese Fragen beantworten zu können, wollen wir zunächst einiges über Tyndales Person erfahren.
TYNDALES ERSTER LEBENSABSCHNITT
Tyndale wurde um das Jahr 1494 in Gloucestershire (England) geboren. Er besuchte die Universität Oxford und erwarb 1515 den Grad des Magisters der Freien Künste. Kurz danach verbrachte er einige Zeit an der Universität Cambridge.
Im Jahre 1522 kehrte Tyndale nach Gloucestershire zurück und wurde der Privatlehrer der Kinder von Sir John Walsh. Er kam bald mit den prominenten katholischen Geistlichen und Theologen, die auf das Rittergut zu Besuch kamen, in Konflikt, da er sich zur Unterstützung seiner Ansichten auf die Bibel berief. Lady Walsh machte sich Sorgen und fragte ihn, warum sie ihm glauben sollten „statt so großen, gelehrten und verdienten Männern“.
Damals entschloß sich Tyndale, das Enchiridion militis christiani (Handbüchlein eines christlichen Streiters) des Gelehrten Desiderius Erasmus ins Englische zu übersetzen. In dieser Abhandlung wurden viele der vorherrschenden religiösen Bräuche und Lehren verurteilt. Erasmus schrieb zum Beispiel: „Es ist für mich stets ein Grund zum Erstaunen, daß Päpste und Bischöfe in so taktloser Weise wünschen, Herren genannt zu werden, wenn Christus seinen Jüngern verbot, sich so nennen zu lassen. ... Die Ausdrücke Apostel, Hirte und Bischof bezeichnen ein Amt oder einen Dienst, keine Herrschafts- oder Regierungsgewalt.“ In dem Handbüchlein ermunterte Erasmus auch dazu, mehr die Bibel zu lesen.
Schon nach kurzer Zeit wurde Tyndale von seinen erbosten Gegnern der Ketzerei beschuldigt. Er erkannte zwar, in welcher Gefahr er schwebte, doch gelangte er immer mehr zu der Überzeugung, daß die einzige Möglichkeit, der Unwissenheit zu Leibe zu rücken, darin bestand, die Bibel in die englische Landessprache seiner Tage zu übersetzen und sie so dem gewöhnlichen Volk zugänglich zu machen.
Bald wurde er in eine Auseinandersetzung mit einem Kleriker hineingezogen, der schließlich sagte: „Es ist besser, ohne das göttliche Gesetz auszukommen als ohne das des Papstes.“ Tyndale entgegnete darauf empört: „Der Papst und alle seine Gesetze können mir gestohlen bleiben. ... Wenn mich Gott verschont, will ich in wenig Jahren dafür sorgen, daß der Junge hinter dem Pflug die Schrift besser kennt als du.“ Tyndale hielt sein Wort. Fest entschlossen, die Bibel selbst dem „Jungen hinter dem Pflug“ verständlich zu machen, ging er 1523 nach London und suchte den katholischen Bischof Cuthbert Tunstall auf, denn er glaubte, dieser Freund des Erasmus werde ihm helfen.
SEINE ÜBERSETZUNG STÖSST AUF WIDERSTAND
Tunstall wagte es aber nicht, an einem Projekt mitzuarbeiten, das seitens der Kirche auf eine so große Ablehnung stieß. Doch Tyndale gewann die Freundschaft von Humphrey Monmouth, einem reichen Kaufmann, bei dem er sich einige Monate aufhielt. Er war sich der ungeheuren Gefahren, die auf ihn lauerten, bewußt und kam bald zu dem Schluß, daß es „keinen Raum im Londoner Haus meines Herrn [gab], um das Neue Testament zu übersetzen, aber es gab auch in ganz England keinen geeigneten Ort dafür“. Mit Monmouths Unterstützung ging Tyndale 1524 nach Deutschland. Dort machte er sich an das Übersetzen der Christlichen Griechischen Schriften (allgemein das Neue Testament genannt), und zwar nicht wie der Bibelübersetzer John Wiclif aus dem Lateinischen, sondern aus der griechischen Ursprache.
Obgleich die Druckarbeiten unter äußerster Geheimhaltung begannen, wurden sie doch bald von Johann Dobneck (Cochlaeus) entdeckt. Dobneck, der als „der schlimmste Feind einer Übersetzung des Wortes Gottes in eine Landessprache“ galt, wandte sich an die Behörden, und Tyndale mußte mit den kaum mehr als 10 Bogen, die bis dahin fertiggestellt waren, nach Worms fliehen. Im Jahre 1526 gelang es, mindestens 3 000 Exemplare seiner Übersetzung herzustellen und auf dem Schmuggelwege an Händler in England zu senden, die als „New Testamenters“ bekannt waren. Das mit dem Kauf dieser Bibeln verbundene Risiko stieg, als Bischof Tunstall und andere Geistliche Jagd darauf machten und sie auf dem Sankt-Pauls-Platz in London verbrannten.
Im Jahre 1527 entdeckte William Warham, Erzbischof von Canterbury, eine Möglichkeit, Tyndales Übersetzung aufzukaufen, bevor sie unter das Volk kam. Auch Tunstall war an einem ähnlichen Plan beteiligt, und auf diese Weise wurden viele Exemplare vernichtet. Aber wozu führte das in Wirklichkeit? Tyndale sagte: „Ich erhalte das Geld, um aus den Schulden herauszukommen, und die ganze Welt wird gegen das Verbrennen des Wortes Gottes ein Geschrei erheben; der Überschuß, der mir verbleibt, wird mich um so mehr beflügeln, das besagte Neue Testament zu korrigieren.“ Auf diese Weise erhielt er das Geld, um mehr Exemplare zu drucken und an einer Revision zu arbeiten. Die Geistlichkeit konnte die Verbreitung des Wortes Gottes durch nichts aufhalten.
Aber weshalb verschloß die Geistlichkeit und sogar Heinrich VIII., der König von England, die Augen vor einer Übersetzung in der Landessprache, wie es diejenige Tyndales war? Der katholische Gelehrte Erasmus nennt u. a. folgenden Grund: „An vielen Stellen der Heiligen Schrift werden die Laster der Geistlichen und Fürsten getadelt, und wenn das Volk diese Stellen lesen würde, finge es an, gegen die Obrigkeit zu murren.“ Doch nicht nur gegen den Gedanken an eine Übersetzung in der Landessprache brachte man Einwände vor. Der König war auch gegen die „verderblichen Glossen“, die Randbemerkungen in Tyndales Übersetzung. Die Geistlichkeit erhob ebenfalls Einspruch gegen die Randbemerkungen, die in ihren Augen für den katholischen Glauben zerrüttend wirkten. Dieser gegnerischen Haltung war es zuzuschreiben, daß dem einfachen Volk die Augen für die Wahrheit des Wortes Gottes verschlossen blieben.
Tyndale hielt Wort und gebrauchte in seiner Übersetzung Ausdrücke, die auch „der Junge hinter dem Pflug“ verstehen konnte. Der Gebrauch neuer Wörter statt der alten kirchlichen Bezeichnungen war in den Augen orthodoxer Katholiken wie Sir Thomas More Ketzerei.
Tyndale hatte mittlerweile zahlreiche „antiklerikale“ Schriften herausgegeben. In seiner Schrift Obedience of a Christian Man (Der Gehorsam eines Christen) focht er die Autorität des Papstes an, verurteilte den Reichtum der Geistlichkeit und stellte andere Mißstände und Mißbräuche bloß. Er verteidigte die Übersetzung der Bibel in die englische Landessprache mit den Worten: „Man sagt, sie könne nicht in unsere Sprache übersetzt werden, die zu ordinär sei. Sie ist nicht so ordinär, wie sie lügen. ... Daß sie den Laien drohen und ihnen verbieten, die Schrift zu lesen, geschieht nicht aus Liebe zu euren Seelen ..., da sie euch ja erlauben, ... Robin Hood zu lesen ... und Fabeln über Liebe und Lüsternheit, ... die so schmutzig sind, wie sie ein Herz nur ausdenken kann, um den Sinn der Jugend zu verderben.“
Tyndale galt daher als Ketzer und seine Übersetzung der Christlichen Griechischen Schriften als eine Ketzerschrift.
DIE HEBRÄISCHEN SCHRIFTEN
Tyndale hatte auch Hebräisch gelernt und fing an, die Hebräischen Schriften ins Englische zu übersetzen, sobald er dazu in der Lage war. Nach der Übersetzung des Pentateuchs stach er von Antwerpen (Belgien) aus in See, um den Pentateuch in Hamburg drucken zu lassen. Aber an der niederländischen Küste erlitt er Schiffbruch und verlor dabei alle seine Bücher und Schriftstücke. In Hamburg traf er 1529 Miles Coverdale, einen alten Bekannten, der ihm bei der Übersetzung des ganzen Pentateuchs half. Der Druck erfolgte schließlich im Jahre 1530. Aber die Augen der Geistlichkeit und des Königs waren gegenüber dieser Übersetzung noch fester verschlossen.
Tyndales Randbemerkungen zum Pentateuch waren noch provokativer als seine Bemerkungen zu den Christlichen Griechischen Schriften. Er ergriff die Gelegenheit, mit Nachdruck auf das hinzuweisen, was er für einen Widerspruch zwischen den Praktiken der Kirche und dem Gesetz Gottes hielt. Man beachte die folgenden Beispiele: 4. Mose 23:8: „‚Wie soll ich verfluchen, den Gott nicht verflucht hat?‘ [Randbemerkung: Der Papst kann sagen, wie.]“ 5. Mose 23:18: „‚Bringe weder den Lohn einer Hure noch den Preis eines Hundes in das Haus des Herrn, deines Gottes.‘ [Randbemerkung: Der Papst wird jedoch von ihnen Tribut nehmen, und Bischöfe und Äbte wünschen keine besseren Pächter.]“ 5. Mose 11:19: „‚Sprich davon [von meinen Worten], wenn du in deinem Haus sitzt.‘ [Randbemerkung: Sprich von Robin Hood, sagen unsere Prälaten.]“
Die Verbreitung der Bibel und der Schriften Tyndales und Luthers nahm in England ein solches Ausmaß an, daß man im Mai 1530 König Heinrich VIII. veranlaßte, eine Versammlung von etwa 30 Bischöfen und angesehenen Geistlichen — darunter auch More und Tunstall — einzuberufen. Als Ergebnis wurde in die Proklamation des Königs eine Verurteilung dieser Schriften aufgenommen. Man bezeichnete sie als „gotteslästerliche und verderbliche englische Bücher“, die den Glauben verfälschen und umstürzlerisch wirken würden.
Von nun an wurden nicht nur Bücher verbrannt. In den folgenden zwei Jahren mußten 10 „Ketzer“, von denen einige Tyndale bekannt waren, auf dem Scheiterhaufen ihr Leben lassen. Andere beichteten, seine Bücher zu besitzen, widerriefen öffentlich und kamen mit einer Geldstrafe davon.
Im Jahre 1533 war Tyndale wieder in Antwerpen, wo er seine Ausgabe der Christlichen Griechischen Schriften revidierte und an einem weiteren Teil der Hebräischen Schriften arbeitete. Er stellte die Bücher Josua bis 2. Chronika in Manuskriptform fertig.
VERRAT, PROZESS UND TOD
Von England aus unternahm man viele Anstrengungen, Tyndale ausfindig zu machen und zu verhaften. Doch bis Mai 1535 waren sie alle vergeblich. Bei einem Essen mit Kaufleuten in Antwerpen machte Tyndale die Bekanntschaft von Henry Phillips. Er vermutete keine Gefahr und lud Phillips in das Haus ein, in dem er sich aufhielt, obgleich Thomas Poyntz, sein Gastgeber, der Sache sehr mißtrauisch gegenüberstand. Als Phillips Tyndales Vertrauen gewonnen hatte, unterrichtete er die Behörden. Es wäre indes unklug gewesen, Tyndale im Hause zu verhaften. Deshalb besuchte Phillips ihn und lud ihn zu einem Essen ein. Sie verließen gemeinsam das Haus und gingen durch eine enge Gasse, wobei sich Phillips hinter Tyndale hielt. Als sie aus der Gasse traten, deutete Phillips auf Tyndale, den die Beamten dann packten und festnahmen.
Tyndale wurde in die Zitadelle von Vilvoorde (etwa 10 Kilometer von Brüssel entfernt) gebracht, wo er 16 Monate in Haft war. Eine Sonderkommission verhörte ihn, was ihm Gelegenheit bot, für seine Glaubensansichten einzutreten, die er ausführlich mit der Bibel untermauerte. Es folgte eine lange Kontroverse mit Theologen der katholischen Universität von Löwen. Letzten Endes wurde er als Ketzer verurteilt. Unmittelbar bevor er erdrosselt und verbrannt wurde, sprach er die Worte: „Herr, öffne dem König von England die Augen.“
SEIN GEBET ERHÖRT
Tyndale konnte nicht ahnen, wie schnell sein letztes Gebet erhört und die Bibel dem einfachen Volk zugänglich gemacht werden sollte. Dann wurden auch die Augen vieler weiterer Menschen für die Wahrheiten der Bibel geöffnet.
Ein Jahr vor dem Tode Tyndales veröffentlichte Miles Coverdale die erste gedruckte vollständige englische Bibel, die teilweise auf der Arbeit Tyndales beruhte. Die Titelseite weist einen Holzschnittrand auf, der dem deutschen Maler Hans Holbein zugeschrieben wird und ganz oben den Namen Jehova in Form des hebräischen Tetragrammatons enthält. Tyndale war es, der den Namen „Jehovah“ in der englischen Sprache einführte, und zwar in seiner Übersetzung des Pentateuchs in 2. Mose 6:3.
Eine von John Rogers unter dem Namen Thomas Matthew angefertigte Revision (deshalb als Matthew-Bibel bekannt) wurde 1537 König Heinrich VIII. vorgelegt, der dafür die königliche Lizenz erteilte. Doch ironischerweise handelte es sich dabei größtenteils um die Übersetzung Tyndales, ja sie enthielt bis 2. Chronika seine Fassung. Am Ende des Buches Maleachi erscheinen seine Initialen „W. T.“ „So wurde [Erzbischof] Cranmer dazu verleitet, die als Gesamtheit unter einem Pseudonym veröffentlichten Übersetzungen anzuerkennen, die bei ihrem getrennten Erscheinen von der Synode verurteilt worden waren. Auf diese Weise erteilte der König die Lizenz für Werke, die er in früheren Proklamationen verurteilt hatte“ (History of the Church of England von R. W. Dixon, Band I, Seite 521).
Ein Jahr später gab der Generalvikar Thomas Cromwell eine Verfügung heraus, in der die Geistlichkeit verpflichtet wurde, in jeder Kirche für die Gläubigen eine Bibel in Großformat auszulegen, die an einer Kette befestigt werden sollte. Die Geistlichkeit sollte „jede Person ausdrücklich auffordern, anregen und ermahnen, dieselbe als das lebendige Wort Gottes zu lesen“. Diese Aufforderung wurde so gründlich befolgt, daß im Jahre 1539 eine weitere Proklamation herausgegeben werden mußte, um die Leute vom lauten Bibellesen während des Gottesdienstes in der Kirche abzuhalten. Offensichtlich waren die Geistlichen darüber aufgebracht, daß viele ihre Predigten ignorierten und sich lieber um jemand versammelten, der aus der Bibel vorlas.
SIND DIR DIE AUGEN GEÖFFNET WORDEN?
Tyndales letztes Gebet wurde insofern erhört, als die Bibel nun dem einfachen Volk zur Verfügung stand. Wie verhält es sich aber heute?
„Ich habe eine Bibel“, mögen viele sagen. Reicht das aber aus, damit einem die Augen aufgehen? „Sie haben Augen, doch können sie nicht sehen“, sagte Gott über sein Volk im Königreich Juda, das untreu geworden war (Jer. 5:21). „Sehen“ kann also sinnbildliches Sehen bedeuten, geistige Wahrnehmung. Es stimmt zwar, daß Millionen von Menschen eine Bibel zu Hause haben, doch ist sie in vielen Fällen nur ein Staubfänger im Bücherregal. Könnte man sagen, daß diesen Menschen die Augen geöffnet worden sind, um die biblische Wahrheit zu erkennen?
„Aber ich lese in meiner Bibel“, mögen einige entgegnen. Bedeutet, lediglich in der Bibel zu lesen, daß einem die Augen geöffnet werden? Nicht unbedingt. Viele lesen die Bibel nur aus rein literarischem Interesse. Doch in der Heiligen Schrift wird uns gesagt, daß die ‘Augen unseres Herzens’ aufgetan werden müssen (Eph. 1:18). Damit unsere Augen wirklich geöffnet werden, müssen wir das, was wir in der Bibel lesen, verstehen, es beherzigen und in unserem Leben anwenden.
Wie verhält es sich mit dir? Sind deine Augen wirklich geöffnet worden? Bist du davon überzeugt, daß das, was in der Bibel steht, lesenswert ist und es verdient, befolgt zu werden? Falls du dabei Hilfe wünschst, sind Jehovas Zeugen gern bereit, dir zu helfen.
Sind deine Augen einmal geöffnet worden, so mußt du sie offenhalten. In den Sprüchen heißt es: „Mein Sohn, merke doch auf meine Worte. Zu meinen Reden neige dein Ohr. Mögen sie nicht aus deinen Augen weichen. Bewahre sie im Innern deines Herzens“ (Spr. 4:20, 21).
[Herausgestellter Text auf Seite 27]
„Wenn mich Gott verschont, will ich in wenig Jahren dafür sorgen, daß der Junge hinter dem Pflug die Schrift besser kennt als du“ (TYNDALE).
[Bild auf Seite 26]
WILLIAM TYNDALE
[Bild auf Seite 28]
Tyndale beim Übersetzen der Bibel
[Bild auf Seite 29]
Die Erdrosselung Tyndales auf dem Scheiterhaufen